Städel Museum ist sich nun sicher: Depotfund ist ein echter Ernst Ludwig Kirchner! – Serie: Rund um die große Kirchner-Retrospektive im Städel Museum in Frankfurt am Main (Teil 2/3)

Kirchner: Akt im Atelier, 1910

Mit einem Wort ist zu Zeiten der großen Kirchner-Ausstellung ein bedeutender Fund für die kunsthistorische Forschung getätigt worden. Gefunden allerdings wurde es schon in der Vorbereitung auf die Retrospektive und auch der Laie ahnt, hier einen Kirchner vor sich zu haben. Die Vorderseite "Szene im Wald (Moritzburger Teiche)" dürfte im Zusammenhang mit einem der Ausflüge der Brücke-Künstler an die unweit von Dresden gelegenen Moritzburger Teiche 1910 entstanden sein. Bekannt ist die dargestellte Szene bereits durch Erich Heckels Gemälde Gruppe im Freien (Privatbesitz) und Max Pechsteins Gemälde Szene im Wald (Privatbesitz), die eine verblüffende Ähnlichkeit aufweisen. Bislang wußte man zwar, daß auch Kirchner an dem Ausflug teilnahm – ein mit Heckels oder Pechsteins Arbeit vergleichbares Werk lag jedoch nicht vor.

Das Gemälde ist auf der Vorderseite (unten links) signiert und datiert: „E L Kirchner 08“. Wie häufig bei Kirchner erfolgten Signatur und Datierung aber zu einem späteren Zeitpunkt – vermutlich hat der Künstler das Gemälde Anfang der 1920er-Jahre großflächig überarbeitet und in diesem Kontext nachträglich signiert. „Die Signatur“, so Stephan Knobloch, Leiter der Gemälderestaurierung im Städel Museum, „liegt eindeutig auf der späteren, von Kirchner selbst durchgeführten Überarbeitung aus den 1920er-Jahren. Damit wird ein weiteres Mal offenkundig, daß Kirchner seine Gemälde vordatiert hat.“ Mit Hilfe von Infrarotaufnahmen ließen sich nicht nur Kirchners Übermalungen deutlich erkennen, sichtbar wurde auch, daß etwa das in der Hängematte sitzende Mädchen ursprünglich ein spitz zulaufendes Gesicht hatte: ein typisches Stilelement für Kirchners Darstellungen der späten Dresdner Brücke-Zeit um 1910.

Ein kunsthistorischer Glücksfall ist auch der Akt auf der Rückseite der Leinwand. Das unsignierte und später nicht überarbeitete Werk zeigt ein nacktes Modell in Kirchners Dresdner Atelier. Deutlich zu erkennen sind mehrere von anderen Kirchner-Gemälden bekannte Utensilien wie eine Sitzbank mit einem geschnitzten Frauenakt als Lehne und zwei figürliche Hocker. Das ebenfalls 1910 entstandene Bild reiht sich in die prominente Werkgruppe früher Aktdarstellungen Kirchners ein und stellt für die kunsthistorische Forschung aufgrund der Qualität und der Tatsache, daß es im Gegensatz zu vielen anderen Werken keine spätere Überarbeitung erfahren hat, einen bedeutsamen Fund dar.

„Die Leinwand des Städel“, so Dr. Lucius Grisebach, „gehört zu der Gruppe von Bildern, die Kirchner innerhalb eines sehr kurzen Zeitraums von drei bis sechs Monaten doppelseitig bemalt hat, beginnend mit der Szene im Wald, gefolgt von der Rückseite mit dem Akt im Atelier. Zu einem späteren Zeitpunkt, Anfang der 1920er-Jahre, erfolgte schließlich die Übermalung, oder wie Kirchner es nannte, „Restaurierung“, der Vorderseite mit der Darstellung der Szene im Wald.“ Restauratorin Heide Skowranek führte aus, daß vor allem die Übermalung für die Urheberschaft Kirchners spricht. „Typisch sind“, so Skowranek, „die Art des Farbauftrags sowie die angedeuteten Konturen, die in der Übermalung durch Farbflächen überdeckt werden.“ Für Dr. Wolfgang Henze ist die Entdeckung des Gemäldes „ein wichtiges Missing Link in der Entwicklungsgeschichte des Kirchner-Werks. Sowohl auf der Vorder- wie auch auf der Rückseite finden sich zahlreiche Anknüpfungspunkte an Kirchner-Werke aus der Zeit um 1910 bzw. Hinweise auf seine Überarbeitungspraktiken.“

Das sagen die Fachleute, aber für das Städel Museum ergeben sich ganz andere Probleme, denn niemand weiß, wie und wann das Gemälde "Szene im Wald (Moritzburger Teiche)/Akt im Atelier" in die Sammlung des Städel gelangte, d.h. vor allem, von wem es kam. In den Archiven des Städel auf jeden Fall konnten keinerlei Dokumente gefunden werden. Die sind aber nach den Untaten des NS-Regimes die Voraussetzung, daß das Städel auch dieses Bild als sein Eigentum betrachten kann. Zu vermuten ist, daß es sich seit den 1930er-Jahren – also den Jahren, als durch Raub und Erpressung jüdischen Mitbürgern Kunstgegenstände abgenommen wurden und als Volkseigentum in den Museen landeten – in den Depots des Städel Museums befindet. Das Witzige daran ist nun, daß das Bild nicht völlig unbekannt ist, sondern intern als Fälschung galt und niemals wissenschaftlich untersucht wurde.

Erst im Zuge der Vorbereitung der Kirchner-Retrospektive wurde Felix Krämer auf das Bild aufmerksam. Seine besondere Achtsamkeit erregte die Darstellung des Aktes im Atelier: „Das attraktivere Werk befindet sich auf der Rückseite. Diese Tatsache sprach von Beginn an gegen eine Fälschung. Die Annahme, daß es sich um ein Original Kirchners handelt, wurde durch die Infrarotaufnahme bestärkt. Unter der oberen Malschicht kamen Details zum Vorschein, die Kirchners Werken der Dresdner Brücke-Zeit entsprechen“, so Dr. Felix Krämer. Das Städel erhofft sich, mit der Diskussion über das Werk zur Klärung der noch offenen Fragen beizutragen. „Mit der Untersuchung des Gemäldes“, so Max Hollein, Direktor des Städel Museums, „konnten wir in einem ersten Schritt die Frage der Zuschreibung beantworten. Damit ist der Forschung ein wichtiges Gemälde Kirchners zugänglich gemacht worden. Darüber hinaus werden wir alle Spuren verfolgen, die sich durch die Veröffentlichung des Werkes erschließen könnten, um dessen Entstehungsgeschichte und Provenienz zu klären.“

So ist das Leben, kann man da nur sagen, denn so eine kunsthistorische Sensation mitten in eine laufende Ausstellung hinein, klingt eher nach einem geschickten Werbetrick. Ist es aber nicht. Ist Wahrheit. Aber gleichzeitig ist dieser Zufall, den man auch Schicksal nennt, ein Anlaß, darauf hinzuweisen, daß die gegenwärtige Kirchnerretrospektive nur noch bis zum 25. Juli läuft und sich auf Jahrzehnte keine Gelegenheit mehr ergeben wird, so vieler Kirchners aus allen Schaffensperioden ansichtig zu werden. Also, auf nach Frankfurt.

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Ausstellung: Kirchner im Städel bis 25. Juli 2010

Katalog: Ernst Ludwig Kirchner. Retrospektive, Hatje Cantz 2010. Museumsleiter Max Hollein hat das Vorwort geschrieben und Kurator Felix Krämer schreibt den Zwiespalt so mancher auf, in „Im Widerspruch. Ernst Ludwig Kirchner“, und liefert damit eine an der Biographie orientierte Werkbeschreibung gleich mit. Es folgen die ganzseitigen Abbildungen im Tafelteil, die mit verbalen Einführungen unterteilt sind in die Werkphasen: Die frühen Jahre, Der Expressionismus in Dresden, der in Berlin, Krieg und Zusammenbruch sowie ’Bergwelten. Kirchners erste Jahre in Davos`. Thomas Röske zeichnet die Frankfurter Jahre von Kirchner nach und zwei weitere Essays beschäftigen sich mit den Paaren in Kirchners Bildwelt und den Arbeiten auf Papier.

Kunst zum Hören: Kirchner, Hatje Cantz 2010

Diese gute Idee, anhand einer CD zu hören und dabei die Bilder abgedruckt vor sich zu sehen, haben wir schon oft von der Wirkungsweise her besprochen. Deshalb hier nur das Spezifische zu Kirchner. Die CD lehnt sich an die Katalogeinteilung an, die sich wiederum an der Ausstellung orientiert. Das heißt, auch hier beginnt es mit „Kirchner im Blick“ und drei ausgewählten Werken: „Selbstbildnis mit Mädchen (Doppelbildnis mit Erna)“ von 1914/15, „Kopf des Kranken von 1918“ und „Vor Sonnenaufgang“ 1927“. Die frühen Jahre werden von drei Bildern repräsentiert, von 1905 bis 1909 und es ist ein nachvollziehbares Konzept, daß die Werkphasen je nach Bedeutung durch die Anzahl der besprochenen Gemälde berücksichtigt werden, d.h. daß dem Expressionismus in Dresden und Berlin die meisten Besprechungen zustehen. Nur dort findet sich neben den Gemälden auch die Skulptur „Traurige Frau“ von 1921 und „Sitzendes nacktes Mädchen“, als Pinsel in schwarzer Tusche auf Karton. Eine weitere Skulptur findet sich später in „Bergwelten“, nämlich „Mutter und Kind“ von 1924. Diesmal haben wir die Erfahrung gemacht, daß man die Texte sehr gut wiederholt hören kann, denn es ergeben sich Passagen, von denen man geschworen hätte, man kennte sie nicht, muß sie aber gehört, besser ’überhört` haben.

Der Verlag Hatje Cantz hat zudem ein vom Städel und der Ausstellung unabhängiges Buch „Ernst Ludwig Kirchner. Ein Künstlerleben in Selbstzeugnissen“ herausgebracht, das von Andreas Gabelmann verfaßt wurde und von Margarethe Hausstätter gestaltet wurde. Das Motto: „Ich muß zeichnen bis zur Raserei“ zeigt den überempfindlichen Künstler. In Briefen, Tagebuchnotizen und Schriften Kirchners zeigt dieser, wie er selbst wahrgenommen werden will. Die meisten Kunstkritiken haben ihn bis aufs Blut gereizt und er scheute sich nicht, eigene zu schreiben, natürlich unter anderem Namen. Das Buch ist eine hilfreiche Ergänzung zur gegenwärtigen Kirchner-Retrospektive, aber auch sonst gut für die eigene Bibliothek. Besonders anrührend die Schwarzweiß-Fotografien aus dem Atelier, also auch mit seinen Modellen, oder dem Haus und den Schweizer Bergen.

Internet: www.phaenomen-expressionismus.de, www.kulturfonds-frm.de, www.staedelmuseum.de

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