Und darum fangen wir unseren Überblick mit dem „Handbuch der literarischen Gattungen“ an. Das hat Dieter Lamping herausgegeben und ist im Verlag Alfred Kröner erschienen. „Kröner?“, runzeln da einige die Stirn. Und gehen sie an ihre Bücherregale und suchen nach kleinen blauen Leinenbänden, dann finden sie sicher Ausgaben der Kröners Taschenausgabe (KTA), die sich selbst als „Schlüsseltexte der Geistes- und Kulturwissenschaften“ verstehen. Und auch sind. Preiswert und handlich dazu. Der vorliegende Band „Handbuch der literarischen Gattungen“ allerdings kommt in weiß daher und sprengt mit dreizehn Zentimeter Dicke sogar den üblichen Rahmen. Aus gutem Grund. Denn hier werden von unterschiedlichen Autoren in 92 Einzelporträts die Gattungen vorgestellt, deren herausragendes Merkmal es ist, daß die Aufteilung des Oberbegriff Gattung, die wir in Lyrik, Drama und Epik systematisieren, nicht ausreicht, die vielen Mischformen einzuordnen, die deshalb als „Mischformen“ ein eigenes Kapitel erhalten, mit dem wir anfangen.
Setzen Sie sich in einer ruhigen Minute hin und schreiben Sie auf, was für Sie Mischformen sind. Sie finden kein Ende. Das fängt mit der Bibel an. Die Gleichnisse gehören genauso dazu wie die Predigten von den Kanzeln, die sich oft darauf berufen. Aber auch Reiseliteratur und Essay. Auch das Tagebuch und die Satire gehören diesen Mischformen an. Wir finden vieles, was in Zeitungen gehört wie Glosse oder Rezension und Interview. Aber was ist mit dem Artikel selbst? Mit dem normalen Zeitungsartikel, der kein Essay, kein Brief, kein Comic ist und kein Fragment sein sollte. „Reportage“ dagegen gehört der Systematik wegen in die Epik, wie auch die Anekdote und der Kriminalroman. Aber erneut gefragt, wo bleibt unser ’normaler` Zeitungsartikel, der nur ab und zu eine Reportage ist? Auf der Strecke bleibt er, zusammen mit Werbetexten, aber auch dem aufgeführten Fragment, was im Register fehlt.
Lassen Sie sich nur nicht irre machen, von so superkritischen Journalisten, die immer ein Haar in der Suppe finden. Dies Buch ist nämlich eines, das Sie dringlich im Bücherregal stehen haben sollten, falls Sie gerne und viel lesen. Wir haben das ausprobiert und die Begriffe aufgeschlagen, auf die unsere letzten Lektüren und Theater-/Opernbesuch beruhten: Fantastische Literatur, Historischer Roman, Kriminalroman, Limerick, Epigramm und Bürgerliches Trauerspiel, Libretto. Das nächste Mal machen wir das vor den Lektüren, haben wir uns geschworen, denn tatsächlich weitet es den Blick, wenn man nicht nur Inhalte liest, sondern die sprachliche Form und deren Geschichte und Struktur dabei mitliest. Tatsächlich ist es eine Bereicherung, dieses „Handbuch der literarischen Gattungen“!
Zum sprachlichen Umgang heutzutage hat sich längst der Begriff „Dummdeutsch“, ja sogar“ Dauerdummdeutsch“, eingebürgert, den man sofort akzeptiert, wenn man Gesprächen von Gymnasiasten in der U-Bahn lauscht. Schriebe man das mit, würde man sehr schnell über die schmale Basis der gesprochenen Wörter erschrecken. Aber auch sonst hat Bodo Mrozek Recht, wenn er dem „Lexikon der bedrohten Wörter“ Band I im Verlag Rowohlt, den zweiten Band folgen ließ. Es ist ein normaler Vorgang, wenn Wörter absterben und aussterben, weil die Sachverhalte nicht mehr vorhanden sind oder sich genauere Bezeichnungen durchgesetzt haben. Aber Sprache lebt eben von der Viel“falt“, wo sich in jeder einzelnen Falte eine Nuancenverschiebung ergibt, die unsere Ausdruckskraft reicher, blühender und uns gehörig macht. Und dieser Prozeß ist ins Rutschen gekommen, was vielerlei Gründe hat, die wir nun nicht ergründen wollen, sondern einige nennen wollen.
„Eigenheimzulage“ wird dann nicht mehr verwandt, wenn es keine staatliche und steuerliche Zulage beim Bau eines eigenen Heims mehr gibt. Klar. Aber „Ehebruch“? Das soll gefährdet sein? Ah, so meint das Herr Mrozek: „Früher ein kapitales Verbrechen wider die Tugendhaftigkeit, heute eine durchaus übliche Gewohnheit, die mit Liaison, Affäre oder Seitensprung hinreichend beschrieben ist.“ Nein, das meinen wir nicht. Das sind alles sehr differente Begriffe. Und der Bruch einer Ehe kann so verschiedenartige Gründe haben. Das neue Scheidungsrecht war es, das die wegen Ehebruch „schuldig“ geschiedene Ehe abschaffte. Aber damit weder den Ehebruch, noch den Begriff.
Dann schon eher „ehern“!, was gerade abgeschafft wird. Denn tatsächlich ist dieses handfeste Adjektiv, das „ursprünglich die Materialität eines Gegenstandes, der aus Bronze oder Eisen war“ kennzeichnete und immer eine so schöne Seelenverwandtschaft mit „ewig“ hielt, kaum mehr gebraucht. Im Ernst, wir lieben es, in diesen Büchern zu blättern. In Band II haben es uns auf Anhieb die Amme und der Anorak angetan. Ja, wie sagen die Leute denn heutzutage zu dem Wind- und Wetterschutz, der als eines der wenigen Worte aus dem Grönländischen auf uns kam? „Kummerbund“ sagt man nicht mehr? Mag sein. Dabei hat das Wort eine herrliche, noch dazu koloniale Geschichte, die Sie auf Seite 96 nachlesen können. Und auch „Kuppelei“ sei aus dem Verkehr gezogen. Da haben wir doch ein schönes Wortspiel hinbekommen. Was richtig ist, daß niemand mehr strafrechtlich verfolgt wird, wenn er zwei Personen zweierlei Geschlechts in seiner Wohnung übernachten läßt! So war das mal, daß derjenige angezeigt werden konnte, der das Selbstverständliche selbstverständlich tat. Dabei ging es nie darum, ob oder ob nicht, sondern nur um den Anschein, ob oder ob. Anders sieht es aus bei Minderjährigen unter 16 Jahren, aber da wird das Kuppeln durch mehr nachgewiesen werden müssen als nur durch Übernachten. Ganz abgesehen davon, daß in der alten Gesetzgebung die gleichgeschlechtliche Zuneigung mit Paragraphen 175 abgetan war, der dann beim Kuppelparagraphen fehlen konnte.
Da sind wir so ins Nachblättern gekommen, daß der Turmbau von Babel mit Sprachbüchern noch nicht abgetragen ist. Fortsetzung folgt also.