Ein weiser Mann sagte, die lustigen Leute sitzen hinten im Bus. An diesen Ratschlag halte ich mich. Ein Pole mit gutem Englisch neben mir, dahinter die jungen Ukrainer, vor mir Polen. Schönes Babel. Das passt auf dem langen Weg von Berlin nach Kraków. Die deutsche Autorennationalmannschaft lässt weiter vorn die Köpfe rotieren. Gehen sie schon die Taktik für das nächste Spiel durch oder schlafen sie einfach? Wäre verdient nach den glasklaren Siegen gegen die Polen und Ukrainer in der Berliner Jungfernheide und dem Geschrei der deutschen Presse: In die Ukraine? Zu den Menschenrechtsverletzern?!
Jedes ukrainische Schulkind weiß: Wenn zwei Oligarchen sich streiten, freut sich der vierte. Aber eindeutige Votivbilder sind eben leichter zu lesen als mehrspurige Recherchen. Die Heilige mit dem Folklorezopf hat mehr auf dem Kerbholz, als man in Deutschland wissen will. Die Mannschaftshäuptlinge sehen die Lage entspannt. Sie fahren, um zu erfahren.
Tomasz bringt mich auf den Stand zur Stimmung in Polen vor der EM. Viertelfinale, mehr ist nicht geplant. Alles andere wäre ein Wunder. Klar, der Papst ist jetzt Deutscher. Der erste Abend in Kraków ist auch deutsch, doch das Pokalfinale Borussia Dortmund vs. Bayern München wird zum polnischen. Lewandowski macht einen Hattrick. Die wenigen Polen in der Touri-Tränke jubeln.
Am nächsten Morgen weht ein rauer Wind von der Weichsel auf das Sportfeld hinter dem Wawel-Schloss. Fußball heißt auf Polnisch Beinball. Die Polen legen eine harte Gangart ein, schnell und druckvoll, mit beeindruckender Physis. Selbst der seit Berlin am Oberschenkel verletzte Kapitän Zbigniew Masternak läuft auf, eine Frage der Ehre. Doch die Deutschen machen das Match ihres Lebens. Klaus Döring hat sein Team präzise wie ein Uhrwerk eingestellt. Ordnung und schöne Kombinationen (2:0). Gegen die quecksilbrigen, aber kaum eingespielten Ukrainer lassen sie es richtig krachen. Drei gefühlvolle Pässe von Kapitän und Dramatiker Christoph Nußbaumeder auf Filmemacher Hakan Mican – drei Tore. Zwischendurch haut der Käptn noch einen Elfer rein. Die ukrainische Truppe lässt die Köpfe hängen.
„So ist Beinball“, sagt ein Pole auf Polnisch. Und dann zu dem ukrainischen Ersatzspieler neben sich auf Englisch: „Was hat dein Großvater im Krieg gemacht?“ Shenya: „In war people are no humans anymore. But between us, this is history for me, also with the Germans.“
Beim gemeinsamen Abendessen im Restaurant sind viele Körper versehrt und einige Gesichter von Blessuren gezeichnet. Ein Gläschen polnischen Vodkas hilft, Schmerzen zu lindern. Und eine neue Geschichte beginnt. Die Ukrainer stehen geschlossen auf und skandieren den Namen eines deutschen Ergänzungsspielers: »Schar-fe! Schar-fe! Schar-fe!« Der so Umjubelte weiß nicht, wie ihm geschieht. Ich schon. Seit Beginn der Reise bemüht sich Martin auf Schulrussisch um Kontakt, umarmt nach Spielen unaufgeregt die Unterlegenen, sein ganzes Gesicht ein Lächeln. Sein Projekt VolksLesen.tv will er auch auf die Ukraine ausweiten.
Am Abend darauf ein perfekt vorbereiteter Leseabend in der Villa Decius, einer Kulturstiftung zur Verbindung Mittel- und Osteuropas. Der Prachtbau aus dem 16. Jahrhundert erstrahlt, alle Texte werden übersetzt auf Leinwände gebeamt. Viele der Autoren haben zur EM bewusst mit Fußballtexten aufgerüstet; so mancher gehört zum kreativen Prekariat und kommt mit seinen Einkünften kaum über die Saison.
Heimvorteil Polen. Fußball und Religion haben hier besonders viel gemeinsam. Jan Grzegorczyk liest seine ironische Geschichte „Die Beichte des Schiedsrichters“ über ein verschobenes Spiel in der polnischen Liga, das mit dem Tod des Papstes zusammenfällt. Kabarettist Jacek Janowicz stellt als Mönch mit dem „Heiligen Buch des Fußballs“ in der Hand den heimischen Fußball in biblischen Kontext, der Saal lacht sich schlapp. Leider sind seine Wortdribblings unübersetzbar. Kapitän Zbigniew Masternak erzählt in „Diego Armando Goethe“ von seinem Jugendtraum, Nationalspieler zu werden. Den hat er sich ja nun erfüllt.
Der ukrainische Kapitän Serhjy Zhadan klärt Liebes- und Besitzverhältnisse im dortigen Club-Fußball im Text „Schwarzes Gold der Hoffnung“.
Von deutscher Seite erklärt Lesebühnenautor und Verteidiger Uli Hannemann einem Kind pädagogisch wertvoll den FC Bayern München in „Die rote Bestie“. Und Ausputzer Jochen Schmidt spielt auf seiner Klaviatur des ewigen Verlierers einen Auszug aus seinem Werk „Meine wichtigsten Körperfunktionen“.
Dann wuchtet Stürmer Pawel Korobtschuk in weichem Ukrainisch und harter Rhythmik das Gedicht »Eindringliche Gewehre« über seine Armeezeit ins Publikum: »… das nächtliche Bett in der Kaserne rettet einen wie ein Delfin / ich halte mich am Kissen fest wie an einer Flosse, / die mich aus dem Schlamm wie einen Ertrunkenen hebt / und zum Sonnenaufgang bringt oder zum Aufstieg oder zum falschen Alarm, / ja, zum falschen, denn ein Krieg ist immer ein Fehler…«.
Noch ein Text hallt nach. In seinem Tagebucheintrag »Die Ukraine bebt und Foster Wallace hat sich umgebracht« reflektiert Mittelfeldass Jan Böttcher, früherer Stipendiat der Villa, über konkurrierende Wahlkundgebungen 2008 in Lviv, Literatur und sein eigenes Dazwischen-Sein: »Zwei Leinwände / synchron geschaltet / einander auslöschend / und niemand / nicht der wilde Osten und / nicht der wilde Westen / wird dich trösten.«
Von der Kunst befriedigt, stürmt man ans Büffet. Plötzlich stehe ich neben Henryk Kasperczak, einem der polnischen WM-Helden von 1974. Ehrfürchtig möchte ich ihm die Füße (pardon, die Beine) küssen, doch der Grandseigneur ist schneller mit einem Handschmatz alter polnischer Schule.
Acht Stunden hat Reiseleiterin Gorza für die 300 Kilometer von Kraków nach Lviv eingeplant. Derweil liest der eine die „Die Brüder Karamasow“, der andere „Die Brüder Boateng“. Es gibt dann nur zwei Stunden Verlängerung, aber leider mit einem Mann weniger. Hakan, dessen deutscher Pass noch in Arbeit ist, verfügt nur über einen türkischen. Ein Visum hat er nicht. Kann man auch nicht kaufen. Für ihn führt kein Weg nach Lviv.
Freigekauft werden müssen dagegen unsere ukrainischen Fußballfreunde. Sie dürfen angeblich nur in einem polnischen Bus einreisen, wenn der Fahrer eine bestimmte Lizenz vorweisen kann. Ist das staatlich verordnete Schikane oder bessert hier die Nachmittagsschicht nur ihr mageres Gehalt auf? Passt jedenfalls zum Gemeinschaftsprojekt EM!
Zum Glück teilt die polnische Equipe mit uns allen ihr uraltes Heilwissen für solch schwere Fälle von Entgeisterung: Selbstgebrannter. Und Singen soll auch helfen.
In Lviv werden wir von dem vorausgeeilten Großorganisator Wladimir Sergijenko und dem eingeflogenen Ersatzmann Frank Willmann am Hotel empfangen. Den beiden Dichtern und Denkern ist die Idee zu diesem Turnier zu verdanken. Und dem Engagement der Kulturstiftung des DFB.
Lviv oder Lwow oder Lemberg ist eine Stadt, in der man sich gern verirren möchte. Die Bausubstanz vereint mehrere Jahrhunderte und Stile von k. und k. bis Kommunismus; in dem verwinkelten und hügeligen Terrain tut sich der Verkehr schwer. Die Skulpturen an den Brunnen sind in Vorfreude auf die EM-Spiele in die gelben Trikots der Nationalmannschaft gehüllt. Man fühlt sich unsicher beim Anblick der allgegenwärtigen Sicherheitskräfte.
Die Zeit drängt. Das Programm ist straff an diesem letzten Tag. Turnier auf dem Kunstrasenplatz der Fußballkaderschule vom FC Karpaty Lviv. So viel auch im Vorfeld gescherzt und gelacht wird, auf dem Platz geht es bissig zur Sache. Die Deutschen schwächeln vor laufenden Kameras. Erste Verfallserscheinungen, Bänderdehnungen, Muskelzerrungen. Doch der Ehrgeiz stirbt zuletzt. Polen ist längst nicht verloren, geht sogar mit frischen Kräften in Führung. Gerade so gelingt dem deutschen Kapitän mit letztem Einsatz der Ausgleich.
Die Ukrainer haben sich mit Roberto Carlos verstärkt, steht zumindest auf dem Trikot. Spielertrainer Wladimir peitscht sein Team abwechselnd auf Russisch und Ukrainisch nach vorn und hinten. Und der „Brasilianer“ schießt das erste und einzige Tor des Turniers für die Ukraine gegen Deutschland – „Molodjez!“ Auch wenn es am Ende nur ein Unentschieden wird, stimmt das versöhnlich. Die stolzen Polen erringen ihren ersten Tagessieg.
Empfang im prächtigen Potocki-Palast. Der Kultursenator überreicht die Pokale und Medaillen. Bester Torjäger ist mit fünf Treffern der Kabarettist Jacek. Deutschland in der Gesamtwertung vor Polen und der Ukraine. Der Spruch von Lineker ist hier nicht bekannt.
Im besten Strip-Lokal der Stadt geht die letzte Lesung über die Bühne. Die ukrainischen Poeten rocken den Schuppen. Das weibliche Personal kann sich keinen Reim auf die vielen Männer machen, die wieder verschwinden, bevor es hier richtig losgeht. Das Abschluss-Bankett auf der Terasse des „Wiener Kaffehauses“ haut uns um, das Nationalgetränk auch. Telefonnummern und Adressen kreiseln, künftige gemeinsame Projekte werden erdacht. Alle sind „Molodzi“, einfach nur Prachtkerle.
Zur Abreise regnet es in Strömen. Wie unpassend, dass der Scheibenwischer gerade jetzt ausfällt, was dem Fahrer des Sammeltaxis nicht auffällt, da er gleichzeitig zwei Mobiltelefone bedienen muss. Mein junger Kollege will nicht auf einer Umleitung zum Lviver Flughafen sterben. Ich zeige Verständnis, bin nach den Feierlichkeiten der Nacht aber nicht in der Lage, diese Unwägbarkeit ins Auge zu fassen.
Zum Abschied sagt der Schriftsteller Jan Grzegorczyk in Warschau: „Wir waren Gegner, jetzt sind wir Freunde.“