Berlin, Deutschland (Weltexpress). Wenn etwas schwer zu fassen ist, dann ist es der Zustand der Linken nach dem Zusammenbruch des „Realsozialismus“. Wie dünn die Decke war, auf der sich bis dahin alles Streben bewegte, zeigte nichts deutlicher als der darauf folgende Zusammenbruch des Glaubens. Plötzlich galt der Sozialismus als historisch widerlegt – als hätte der „Realsozialismus“ erst durch sein Scheitern jene Weihe erhalten, die man ihm zeit seiner Existenz doch nicht so recht geben wollte. Eine alles erstickende Absurdität legte sich über die Diskussion. Es wurde vorausgesetzt, der Sozialismus habe existiert. So war es nur folgerichtig, das Verschwinden des für Sozialismus gehaltenen „Realsozialismus“ als letzten entscheidenden Beweis seiner Untauglichkeit zu werten. Diese Verwechslung aber ist die Ursache sowohl einer alten als auch einer neuen Misere.
Diese Verwechslung trug im Westen wesentlich dazu bei, das linke Lager nicht nur in unzählige Einzelteile zu zerreißen, sondern es auch strategisch zu desorientieren. So mannigfaltig ihre Ursachen aber sein mögen, das geringe Interesse an marxistischer Theorie und Analyse trug einen hohen Anteil daran. Dies wiederum läßt sich am ehesten damit erklären, daß die Realität des „Realsozialismus“ selbst demotivierend wirkte. Man stelle sich eine Jugend vor, die aus spontaner Gesellschaftskritik heraus eine Alternative sucht und dabei auf ein abschreckendes Beispiel stößt, das sich als sozialistisch bezeichnet und dessen Ideologie dies begründet. So mag diese Jugend vielleicht außerstande sein, deren Verzwicktheit zu entwirren, ihr Fühlen jedoch ertastet viel sicherer den Widerspruch zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Dabei geht oft auch Wertvolles verloren, weil der Betrug sich vorzugsweise mit dem Anschein des Echten schmückt. Die marxistische Theorie fiel dem zum Opfer, wodurch die Möglichkeit ungenutzt blieb, dem Irrtum zu begegnen. Dies ist in etwa das Bild der alten Misere.
Das Bild der neuen Misere drückt Lähmung aus. Das Abgelehnte, ja vielfach Gehaßte existiert nicht mehr; es hatte nicht einmal geschichtlichen Bestand. Dahingefahren ist damit auch die letzte Hoffnung, es irgendwann verbessern zu können. Diese Lähmung ist der nicht mehr zu übertreffende Höhepunkt der Verwechslung. Es wird keinen neuen Anfang geben, solange sie das politische Denken der Linken beherrscht.
Spielarten der Verwechslung
Von der herrschenden Klasse zu erwarten, sie werde sich von einer bisher erfolgreichen Strategie gegen die Linke durch deren Anpassung abbringen lassen, ist naiv. Das kapitalistische System spaltet und zersplittert ununterbrochen die Gesellschaft, so daß es ständig eine wie auch immer geartete Linke hervorruft, die bekämpft wird, auch wenn der höchste Ausdruck ihres Widerstandes nur noch darin besteht, sich die Augenbrauen abzurasieren.
Sie wird nicht nur dabei bleiben, daß es sich um den auf Marx und Engels zurückzuführenden Sozialismus gehandelt habe. Sie wird nicht ruhen, solange es ihr nicht gelungen ist, dieses „Unrechtssystem“ mit den Exzessen der Nazidiktatur gleichzusetzen. Auf diese Weise hofft sie, die sozialistische Idee in einem rotbraunen Cocktail aufzulösen und zugleich die eigene Geschichte zu bereinigen. Vor diesem Hintergrund muß eine paralysierte Linke wie ein unter erdrückender Beweislast zusammengebrochener Angeklagter wirken, ihr Schweigen wie ein Geständnis.
Hilfloses Schweigen und gezielte Verwechslung sind altbekannte Spielarten. Neu ist eine denunziatorische Beflissenheit, die sich auf die Seite der Anklage zu retten sucht und ihre kontraproduktive Rolle als linke Politik verbrämt. Es sind die Repräsentanten der PDS, die sich als Kronzeugen anbieten, wobei allerdings noch nicht geklärt ist, ob sie sich ihres Treibens bewußt sind. Sie behaupten schlankweg, der Sozialismus habe existiert. Doch im Gegensatz zu damals, als sie ihn als SED-Funktionäre noch lobten, machen sie ihn heute schlecht. Und weil er eben schlecht war, werben sie nun für einen neuen Gesellschaftsvertrag. Das wirft natürlich die Frage auf, in welchem Milieu ihr Denken geprägt wurde.
Soll dieses Milieu, sollen diese Verhältnisse sozialistisch gewesen sein? Hier zeichnet sich das Ausmaß der Absurdität schon deutlicher ab. Hier erhebt sich wider alle Vernunft eine bizarre, dreiste Behauptung. Die Gleichsetzung des stalinistischen Systems mit dem noch niemals verwirklichten Sozialismus als Träger der humanistischten Idee ist der Versuch, die Vernunft selbst zu zerstören.
Wie das mitunter vonstatten geht, demonstrieren Gysi und die Brüder Brié in ihrer Antwort an Branstner („Neues Deutschland“ 8./9. April 1995, Seite 10). Sie schreiben: „Am Rande wollen wir anmerken, daß wir den Begriff des Klassenkampfes auch aus terminologischen Gründen nicht verwenden. Er hat sich durch stalinistische und poststalinistische Praxis unumkehrbar vom Marxschen Klassenkampfbegriff entfernt.“
Naheliegend wäre, den Marxschen einfach wieder zu verwenden. Doch folgt man dieser Mixtur aus marzahnischer Advokatenlogik und Polit-Dadaismus, verlöre beispielsweise ein ahnungsloser Arzt „unumkehrbar“ seine medizinischen Fähigkeiten allein dadurch, daß sich ein pfuschender Betrüger seines Namens bedient.
Wie offen noch die Wunden sind und wie folgenschwer sich derartige Verdrehungen auswirken könnten, verdeutlicht die Schlußbetrachtung eines Artikels in der linken Zeitschrift „Arranca!“ Nr. 6/95. Da heißt es auf Seite 21: „Heute dagegen scheint der Sozialismus besiegt und unattraktiv. Das liegt nicht hauptsächlich an der massiven Medienpropaganda und der Wohlstandszufriedenheit in den reichen Ländern, sondern vor allem an der Geschichte des linken Projekts selbst. Der Sozialismus gilt heute als das Modell eines totalen Staates, in dem die allmächtige Partei dem Individuum die Luft zum Atmen nimmt. Kein Wunder, daß dafür fast niemand mehr kämpfen will.“
Gysis Haltung dazu ist klar: „Wer den Sozialismus leugnet, versucht aus der Geschichte zu flüchten“, wird er im „Neuen Deutschland“ (Nr. 29./30.Mai 1993) zitiert.
Gegenüberstellungen
In einem Gespräch mit der „Wirtschaftswoche“ (Nr. 17/20. 4.1995) weist der Soziologe Ulrich Beck die „Sehnsucht nach der starken Hand“ zurück und betont die Notwendigkeit von Freiheit und Demokratie als Grundlage schöpferischer Weiterentwicklung und höherer Produktivität. In dieser Frage hat Beck unbedingt recht: Repressive Systeme töten auf Dauer jede Kreativität ab und verlieren damit ihre gesellschaftlichen Erneuerungskräfte. Ihre Produktivität sinkt. Dies wiederum führt zur weiteren Verschärfung der staatlichen Repression und damit in die berühmte historische Schieflage, in der sie mit wachsender Geschwindigkeit zerfallen.
Becks oben genannte Ansicht ist wesentlicher Bestandteil sozialistischer Zielsetzung, obwohl er selbst wohl kein Sozialist ist. Er spricht vom „Zusammenbruch des Sozialismus“ und führt auf Seite 54 aus: „…das System war der Versuch, soziale Sicherheit ohne Freiheit zu verwirklichen. Dieser Versuch ist gescheitert.“ So exakt Beck aber den letalen Systemwiderspruch des „Realsozialismus“ erfaßt, so sehr ist er Opfer der Verwechslung, die ihn davon abhält, diesem Gedanken weiter nachzugehen. Es war nämlich die im Verhältnis zum Westen unterentwickelte Produktivität, die keine Freiheit zuließ, durch die wiederum eine höhere Produktivität erst stimuliert worden wäre. Hätte er Marx zu Rate gezogen, hätte er erfahren, daß eine dem Kapitalismus unterlegene Arbeitsproduktivität nicht das Merkmal einer sozialistischen Gesellschaft ist.
Im „Vogtlandboten“ (3. Jhg. Nr. 4, April 1995) schreibt MdL Dr. Monika Runge aus Leipzig: „Die Frage, ob das Gesellschaftssystem, welches in den osteuropäischen Ländern existierte, Sozialismus war oder ob gar kommunistische Revolutionen stattfanden, ist für eine sozialistische Partei keine beliebige Frage.“
Wie hart Monika Runge am Kern der Sache liegt, wird deutlich, wenn nun zwei Positionen direkt gegenübergestellt werden. Die eine stammt von Prof. Klaus Kisker, die andere vorzugsweise von Gregor Gysi:
In einem Referat, das Kisker am 13. Februar 1991 in Berlin-Dahlem hielt und das in einem Rundbrief des „Marxistischen Arbeitskreises“ der SPD veröffentlicht wurde, sagt er folgendes: „Aber die große Koalition von Jelzin über Glotz, Lafontaine und Blüm bis hin zu den sogenannten Neokonservativen, alle, die heute von dem Sieg des Kapitalismus über den Sozialismus sprechen, machen zwei bemerkenswerte Fehler: Sie übersehen, daß nicht der Sozialismus, sondern eine Mischung aus Feudalismus mit sozialistischen Versatzstücken in eine Krise geraten ist und sie leisten eine beachtliche Verdrängungsarbeit, indem sie die Warnsignale, die das Ende der zivilisatorischen Funktion der kapitalistischen Systeme anzeigen, übersehen.“
Im „Neuen Deutschland“ vom 12. April 1995 wird Gysi auf Seite 5 aus einem Streitgespräch zitiert, in dem es um die Eigentumsfrage geht: „… dem habe Gysi entgegen gehalten, daß der Sozialismus sich trotz wichtiger Fortschritte nicht als Alternative durchsetzen konnte. Im Sozialismus ist die Eigentumsfrage rigoros entschieden worden. Eine wirkliche Alternative für das jetzige System stehe noch aus, meinte Gysi. Sozialismus bleibe weiter das Ziel der PDS. Auf längere Sicht sehe er aber keine Chance für dieses Ziel.“
Insofern ist Gysi konsequent; denn wenn er den gescheiterten „Realsozialismus“ unter Aufbietung seiner geistigen Kräfte für Sozialismus hält, muß er von diesem Ziel ablassen. Was ihn allerdings bei dieser Einstellung veranlaßt, einer sozialistischen Partei mit seinen Geistesblitzen voranzugehen, sollte er seiner zutraulichen Basis bei Gelegenheit einmal verklickern.
Zwischenbilanz
Bei der Frage, wie nun eine tragfähige Ausgangsposition für eine sozialistische Strategie des 21. Jahrhunderts zu erarbeiten ist, genügt es nicht, die behauptete Existenz des Sozialismus unter Hinweis auf die von den marxistischen Klassikern erarbeiteten Kriterien nur zu verneinen, obwohl das für die Analyse unerläßlich ist. Wenig geeignet ist, den Widerspruch nur formal aufzuheben, also die behauptete Existenz zu verneinen, um das Ziel neu anstreben zu können.
Es gilt herauszuarbeiten, daß dieser „Realsozialismus“ nicht etwa nur ein unvollständiger Sozialismus war, der unter Umständen noch eine Chance gehabt hätte. Die strategische Blockade läßt sich nur überwinden, wenn sich erweist, daß es sich um eine nichtprogressive Formation gehandelt hat, deren Weg in die historische Sackgasse vorgezeichnet war und die zu keinem Zeitpunkt auch nur die geringste Ähnlichkeit mit dem hatte, was in der marxistischen Theorie als Sozialismus definiert wird.
Denn gehen wir davon aus, welch eine zentrale Rolle die Entwicklung der Produktivkräfte in der marxistischen Theorie spielt und schauen wir uns an, aus welchen Bedingungen dieser angebliche Sozialismus gestartet ist, ergibt sich ein Bild, das eine nähere Betrachtung verdient.
Tatsächlich wirft aber auch die Analyse der aktuellen kapitalistischen Entwicklung zwingend die Frage auf, wann denn jemals all die technologischen Revolutionen, Innovationen und Rationalisierungsschübe, eben die im modernen Kapitalismus rasant vorangeschrittene Produktivkraftentwicklung dem „Realsozialismus“ entweder vorausgegangen ist oder wenigsten während seines Bestehens stattgefunden hat, die nach Marx erst die objektiven Bedingungen für den Übergang zum Sozialismus bildet. Hier sind wir wieder bei jenem berühmten Satz von ihm, den der Geschichtsverlauf nun auch bestätigt hat: „Eine Gesellschaftsformation geht nie unter, bevor alle Produktivkräfte entwickelt sind, für die sie weit genug ist, und höhere Produktionsverhältnisse treten nie an die Stelle, bevor die materiellen Existenzbedingungen derselben im Schoß der alten Gesellschaft selbst ausgebrütet worden sind.“
Angesichts der eklatanten ökonomischen und politischen Rückständigkeit auf der einen Seite und der marxistischen Vorstellung auf der anderen, daß Sozialismus nur eine dem Kapitalismus überlegene Formation sein könne, muß doch endlich einmal in aller Konsequenz der Frage nachgegangen werden, warum denn ausgerechnet das Gegenteil davon als Sozialismus gehandelt wird. Die sozialistische Bewegung steht vor drei konkreten Aufgaben: 1. die Verwechslung zu überwinden; 2. die Analyse des Kapitalismus auf einen aktuellen Stand zu bringen; 3. den Ausblick zu skizzieren und die Strategie zu entwerfen.
Formations- und Sozialismusbegriff
Der Marxsche Formationsbegriff umreißt die Gesamtheit der Produktionsverhältnisse, also der ökonomischen Struktur der Gesellschaft, der realen Basis und des juristischen und politischen Überbaus. Aus ihm ergibt sich, daß das gesellschaftliche Sein das Bewußtsein der Menschen bestimmt. Das bedeutet für die Methodik, daß eine Epoche von ihrer ökonomischen Basis her aufzuschlüsseln ist.
„In großen Umrissen“, schreibt Marx im Vorwort „Zur Kritik der Politischen Ökonomie“, „können asiatische, antike, feudale und modern bürgerliche Produktionsweisen als progressive Epochen der ökonomischen Formationen bezeichnet werden.“
Dies ist eine Absage an jeden Geschichtsautomatismus. Der dialektische Lauf der Geschichte impliziert demnach „nichtprogressive“ Epochen. Folgen wir den Klassikern, daß sich Sozialismus nur im Weltmaßstab und nur dann durchsetzen läßt, wenn das kapitalistische Sytem zur Fessel weiterer Produktivkraftentwicklung geworden ist, ist festzustellen, daß der „Realsozialismus“ nicht von diesen Bedingungen ausgegangen ist.
„Der Kommunismus ist empirisch nur als die Tat der herrschenden Völker auf einmal und gleichzeitig möglich, was die universelle Entwicklung der Produktivkraft und den mit ihm zusammenhängenden Weltverkehr voraussetzt“ ( K.Marx, F.Engels: Deutsche Ideologie, Ausgewählte Werke, Bd. I. Seite 226).
Für die definitorische Eingrenzung des Sozialismusbegriffs ließen sich auf der Grundlage der Arbeiten von Marx und Engels folgende Kriterien ableiten:
a) Höhere Entwicklung der Produktivkräfte, also höhere Arbeitsproduktivität als der Kapitalismus. b) Tendenz zur Aufhebung der Arbeitsteilung, damit die Befreiung des Individuums als reines Anhängsel des Produktionsapparates (freie Wahl des Arbeitsplatzes und Freizügigkeit). c) Tendenz zur Aufhebung der Unterschiede zwischen Stadt und Land. d) Tendenz zur Aufhebung der Unterschiede zwischen körperlicher und geistiger Arbeit. e) Staatliche Tätigkeit nur, um die Überführung der Produktion in unmittelbare Selbstverwaltung der Gesellschaft zu erreichen (Absterben des Staates). f) „Höhere“ Form der Demokratie (Presse-, Versammlungs- und Wissenschaftsfreiheit, Streikrecht usw.).
War oben davon die Rede, daß eine Epoche von ihrer ökonomischen Basis her aufzuschlüsseln ist, gilt dies auch für die Analyse des „Realsozialismus“.
Die politische Realität des stalinistischen Systems
Gehen wir nun zur Wirklichkeit dieses Systems über, läßt sich feststellen, daß es das Resultat einer gescheiterten Revolution ist. Als Stalin den noch von Lenin eingeleiteten Versuch abbrach, durch Nachholen der kapitalistischen Phase (NEP) die Produktivkräfte zu entwickeln, war Rußland ein Land, das sich objektiv noch nicht sehr weit von seiner feudalistischen Vergangenheit entfernt hatte, seine Strukturen in vieler Hinsicht noch feudalistisch waren.
Auf diese archaischen Zustände, auf dieses von Welt- und Bürgerkrieg zurückgeworfene Land wandte Stalin seine „Theorie vom Sozialismus in einem Land“ an. Diese Theorie hatte nichts mit der marxistischen gemeinsam. In ihrer praktischen Anwendung bedeutete sie die Durchführung der ursprünglichen Akkumulation mit äußerster Gewalt. Terror und Gewalt waren somit die Mittel, mit denen Stalin seine Herrschaft antrat. Es ist der Widersprüchlichkeit der russischen Revolutionsgeschichte zuzuschreiben, daß es Stalin gelang, sein Werk als die Fortführung der Revolution Lenins auszugeben. Anders wäre nicht zu erklären, warum sich dennoch ein ungeheurer Idealismus freisetzte, der den maßlosen Terror zunächst überdeckte
Es kann aber nur dieser Idealismus gewesen sein, der Stalins Werk zunächst gedeihen ließ. Terror allein hätte nicht gereicht. Die Industrialisierung Rußlands war eine gigantische Leistung. Es darf jedoch nicht übersehen werden, daß sie nichts Neues schuf, sondern nachholte, was es im entwickelten Westen längst gab. Aber hinter diesem für die Verhältnisse Rußlands wahrhaft titanischen Werk wütete eine blutige Despotie, die das Volk mehr und mehr in Lethargie und Angst trieb. Die vom Zarismus übernommenen Herrschaftsstrukturen trugen nun zwar neue Bezeichnungen, unterschieden sich von ihm aber oft nur dadurch, daß sie noch schlimmer waren. Rußland machte zwar einen gewaltigen Sprung in seiner Entwicklung, aber die Hoffnungen der Revolution erfüllten sich nicht. Im weiteren Verlauf starb der Idealismus ab. Allein beherrschendes Element blieb der Terror. Noch einmal, und zwar nach dem faschistischen Überfall, entstand eine von Idealismus getragene Initiative. Aber schon bald setzte die Agonie des Systems ein.
Stalins Tod 1953 beendete zwar die Formen äußersten Terrors; dennoch blieb die Sowjetunion bis zu ihrem Ende ein System der Unfreiheit und politischen Unterdrückung. Das Stalinsche Gesellschaftsmodell sollte der Versuch sein, den Sozialismus unter Umgehung der kapitalistischen Epoche zu errichten.
Der eigentliche Preis dafür lag lange in den verborgenen Schichten des Systems. Der Aufbau des Sozialismus in einem Land, und nach dem 2. Weltkrieg in einer Zone, erschöpfte die Kräfte sowohl der sowjetischen als auch der anderen Völker des „Realsozialismus“. So war der Preis nichts anderes als der tödliche Systemwiderspruch selbst.
Bei den sogenannten Bruderländern muß vieles anders bewertet werden, besonders in der CSSR und der DDR, die zuvor zum Westen gehörten und weit höher entwickelt waren. Aber die Satelliten der SU waren sowohl Instrumente ihrer Außenpolitik als auch Objekte ihrer Wirtschaft. Auf Dauer breiteten sich Auszehrung und Stagnation über den gesamten Ostblock aus. Es war nur folgerichtig, daß die sterbende SU auch den „Realsozialismus“ ihrer Satelliten beendete. Ziehen wir ein vorläufiges Resümee, läßt sich feststellen, daß es zwar anfangs gelungen war, enorme industrielle Leistungen zu vollbringen, die politischen Errungenschaften aber weit hinter denen der bürgerlich-demokratischen Revolution zurückblieben. So brachte das Stalinsche System eine nichtprogressive Epoche hervor.
Widerspruch und Sackgasse
Wir haben oben gesehen, daß Marx und Engels völlig andere Ausgangsbedingungen setzten, die im Jahre 1917 nicht vorhanden waren, und schon gar nicht in Rußland. Stalin ging wohl davon aus, daß der Aufbau des Sozialismus im isolierten und rückständigen Rußland möglich sei. Er mag vielleicht sogar angenommen haben, daß, wenn der Anschluß an die Entwicklung des Westens erreicht worden ist, Druck und Gewalt nicht mehr notwendig wären. Betrachten wir noch einmal das Jahr 1917, ist leicht zu erkennen, daß in diesem Jahr sowohl der Zarismus untergegangen als auch die sozialistische Revolution proklamiert worden ist. Lenins Konzept der Revolution in Permanenz, also zunächst der Vollendung der bürgerlichen Revolution, wurde von Stalin nicht weiterverfolgt. Lenin war trotz mancher Spekulation in seinen strategischen Erwägungen klar, daß es keinen direkten Weg zum Sozialismus geben könne.
Stalin aber ging den direkten Weg. Es gab also keine vollendete bürgerliche Revolution, damit auch keine im politischen Leben verankerten bürgerlichen Freiheiten. Was Rußland kennzeichnete, waren nicht die demokratischen Errungenschaften der bürgerlichen Epoche, sondern die immensen Rückbleibsel des Feudalismus. Dies war der Zustand, aus dem Stalin sein Land in den Sozialismus treiben wollte. Begünstigt wurde dieses Unterfangen durch den noch lebendigen Geist der Oktoberrevolution, der Quelle des oben erwähnten Idealismus.
Aber was wurde – genauer betrachtet – erreicht? Die Industrialisierung war erreicht, aber die Kräfte des Volkes waren erschöpft. Von einem Wohlstand der Massen konnte keine Rede sein. Und mit dem Nachlassen der Begeisterung stagnierte auch die industrielle Entwicklung. Was war geschehen?
Der Versuch, Sozialismus aus dem Boden zu stampfen, war gescheitert, weil die systembedingte Unfreiheit nun anfing, auf das Stalinsche System zurückzuschlagen; abgesehen von all den inneren und äußeren ungünstigen Faktoren, die hier nicht weiter behandelt werden können.
Stalins Modell trug nur eine begrenzte Entwicklungspotenz in sich. Der Systemfehler war von vornherein installiert. So ergab sich ein kritischer Punkt, von dem ab gesellschaftliche Erneuerungskräfte notwendig gewesen wären. Aber der Idealismus war aufgezehrt. Aus Zwang und Terror heraus konnte nichts mehr gedeihen. Die Wirtschaft war in einen stumpfsinnigen Trott gefallen,unfähig, aus ihrem expansiven Zustand herauszukommen. Es wurden zwar gewaltige Mengen produziert, aber mit einem ebenso gewaltigen Aufwand und einer noch gewaltigeren Ressourcen-und Naturvernichtung. Der dumpfe bonarpartistische Polizei- und Militärstaat Stalins erwürgte die gesellschaftliche Kreativität. Der für die weitere Entwicklung notwendige qualitative Sprung zur intensiven Wirtschaftsweise und damit zur Steigerung der Arbeitsproduktivität konnte sich in diesem Klima nicht freisetzen.
In dem Maße, in dem sich der Systemwiderspruch seinem Kulminationspunkt näherte, stagnierte die gesamte Entwicklung. Und jenseits dieses Punktes setzte der allgemeine Zerfall des Systems ein. Die Schieflage war entstanden.
Immer wieder ist heute zu hören, es hätte anders kommen können, es wäre möglich gewesen, doch noch die Produktivität zu steigern und auf dieser Grundlage demokratische Verhältnisse zu schaffen. Aber alle zur Verfügung stehenden Mittel – vor allem subjektive und außerökonomischer Zwang – wurden eingesetzt! Es ist aber das Unsinnigste überhaupt, darauf zu beharren. Es zeigt nur, wie stark immer noch die Illusion wirkt, mit der sich der „Realsozialismus“ nährte. Am Ende nutzte auch die allmächtige Geheimpolizei nichts mehr – im Gegenteil: Ihre Tragödie bestand darin, daß sie vorantrieb, was sie eigentlich verhindern wollte. Der Widerspruch zwischen den reaktionären politischen Verhältnissen, die sich verselbständigt hatten, und den ökonomischen Erfordernissen sprengte das stalinistische System kurz vor Ausgang des 20. Jahrhunderts auseinander. Die historische Sackgasse wurde offenkundig.
Was war es nun?
Feudalismus vor dem Hintergrund industrieller Entwicklung zu behaupten, ist ein Wagnis. Aber jede historische Epoche trägt auf der Grundlage ihrer ökonomischen Entwicklung politische Merkmale. Herrschaftliche Willkür kennzeichnete den Feudalismus. Die bürgerliche Demokratie ist Ausdruck des Kapitalismus. Und die sozialistische Demokratie wäre Ausdruck des Sozialismus. Sehen wir uns den „Realsozialismus“ unter diesem Aspekt an, sehen wir neben seiner erreichten Industrialisierung zugleich aber auch seine vorbürgerlichen politischen Verhältnisse. Seine politische Realität läßt sich beim besten Willen nur mit feudalen Zuständen vergleichen. Reiseverbot, Paßentzug, Arbeitszwang, Mauer, Bevormundung usw. waren konkret. Das vom Rest der Welt abgeschlossene Industrieterritorium der „realozialistischen“ Länder läßt sich unbedingt mit der Schollengebundenheit des Feudalismus vergleichen.
Konkret blieb es eine Ausbeutergesellschaft. Sozialistisches Eigentum existierte nicht. Der staatliche Besitz trug die irreführende Bezeichnung „Volkseigentum“. Die Verfügungsgewalt aber hatte die Partei, die uneingeschränkt darüber herrschte, und zwar als institutionalistisches, kirchenähnliches Gebilde, was übrigens ebenfalls eher an Feudalismus erinnert.
Der „Realsozialismus hat den Übergang vom Feudalismus zum Kapitalismus verzögert, an dessen unterem Ende er nach seinem Scheitern gelandet ist. Bisher ist der Streit ohne geeignete Gegenposition geführt worden, so daß der Begriff „Stalinismus“ ohne Bezug blieb. Stalinismus war aber nicht nur Terror, Verbrechen, reine Erscheinung. Stalinismus war die Konzeption, die dieses Gemisch aus Feudalismus und Industrialisierung hervorbrachte. Das Resultat seines Wirkens läßt sich daher am ehesten als „Industriefeudalismus“ bezeichnen. Das aber mit Sozialismus zu verwechseln, ist absurd.
Anmerkung:
Vorstehender Beitrag von Willi R. Gettél wurde 1995 erstveröffentlicht.
Siehe auch die Beiträge
- Ein neuer Anfang ist fällig – Serie: Gedanken zur Strategiediskussion (Teil 2/3) von Willi R. Gettél
- Freiheit statt Kapitalismus – Serie: Gedanken zur Strategiediskussion (Teil 3/3) von Willi R. Gettél
im WELTEXPRESS.
Anzeige:
Reisen aller Art, aber nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert und mit Persönlichkeiten – auch Studien- und Bildungsreisen –, bietet Retroreisen an. Bei Retroreisen wird kein Etikettenschwindel betrieben, sondern die Begriffe Sustainability, Fair Travel und Slow Food werden großgeschrieben.