Sondieren bis zum Kollaps

Christian Lindner (FDP)
Christian Lindner (FDP). Quelle: Pixabay

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die Führer politischer Parteien erfinden stets die richtigen Lügen für die eigene Wahrheit. Lindner, besser gesagt: sein Vize Kubicki, hat die Sondierung gesprengt. Und damit haben die Parteigegner einen Sündenbock, den sie benötigen, um einerseits von der eigenen Unfähigkeit abzulenken und sich andererseits selbst den Nimbus verantwortungsvoller Verhandler zu verleihen. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren“, teilte Lindner lapidar mit, eine Metapher mit versteckter Schuldzuweisung, während der CSU-Sprecher wenige Minuten zuvor noch meinte: Wir kämpfen bis zum letzten Atemzug.

Die sorgsam gehütete Wahrheit dürfte sich ein wenig anders anhören, auch wenn klar ist, dass einer immer der erste sein wird, dem die Hutschnur reißt, und damit sinnentleerten Deals um Ideologien ein Ende setzt. Fünf Wochen ergebnislose Sondierungen mit politischen Gegnern beweisen hinreichend, dass es keine gemeinsame und schon gar keine tragfähigen Grundlagen geben wird und auch nie gegeben hat, um einen Kanzler zu inthronisieren. Der von der Jungen Union weidwund geschossene Seehofer war hauptsächlich mit seiner Gesichtswahrungsstrategie beschäftigt, was wiederum der FDP die Tränen in die Augen trieb und den Grünen hämische Schadenfreude bescherte. Nun ja, was tut man nicht alles für die gute Unterhaltung seiner Wähler.

Aber auch Özdemir und Goering-Eckart brachten die Gelben und Schwarzen in Rage. Sie operierten in Sachen Familiennachzug und Umwelt mit bagatellisierenden und klein gerechneten Zahlen, teilweise sogar mit fiktionalen Berechnungen auf Basis von Nichtwissen, persönlicher Meinung und theoretischen Annahmen, die mit Realitäten nichts zu tun haben. Kohlekraftwerke können weg. Autos können weg. Grenzen können weg. Chemie kann auch weg. Sicherheitsüberwachung sowieso weg. Wir brauchen in Deutschland mehr Umwelt für unsere Flüchtlinge und deren Familien. Meiner Ansicht nach können die Grünen auch weg, aber ich darf ja bei solchen Sondierungen nicht mitmachen. Nun ja, was den Nachzug von Familien anginge, könnte man ja Konzessionen machen, auf dem Gelände der diversen Abraumhalden würde für Wohncontainer genug Fläche frei. Aber ob die dahin wollen…

Auch wenn alle Beteiligten im Brustton der Überzeugung behaupten, sie hätten bis zum letzten Moment um Sachthemen gerungen und man sei „beinahe so weit gewesen“, sollte man jedes öffentliche Statement mit größter Vorsicht genießen. Ich glaube diesen mantrahaften Beteuerungen kaum ein Wort. Sachthemen begründen und entwickeln sich immer aus Ideologien. Auf der anderen Seite ist ebenso klar: Wer zu Kompromissen bereit sein will, weiß auch, dass er sich ein Stück weit von eigenen Überzeugungen verabschieden muss. Der Grat ist ein sehr schmaler – er trennt nämlich Selbstverrat von Schwäche, Kompetenz von Unfähigkeit und Misstrauen von Glaubwürdigkeit. Bei den Grünen treffen eindeutig letztere Merkmale zu: Schwach, unfähig und unglaubwürdig.

Glücklicherweise waren CSU/CDU nicht bereit, sich den weltfremden, teilweise staatsgefährdenden Ideen und „getürkten Flüchtlings-Zahlen“ der Grünen weiter anzunähern – aus Angst vor ihren Wählern, versteht sich. Die FDP konnte weitgehend taktisch und ohne Querschläger verhandeln, lediglich Kubicki sah man an, dass er extrem genervt war. Seine gebügelten Hemden waren ausgegangen, auch ein schwerwiegender Grund, ungehalten sein. Aber Mutti war ja mit der Wäsche rechtzeitig zur Stelle, was seinen Blick sofort wieder schärfte. „Die wahren Blockierer sind im grünen Lager zu finden“, meinte Kubicki in einem schnoddrigen Nebensatz. Stimmt, behaupte ich. Nun haben Tofu-Anton, Kümmel-Cem und Ossa-Katrin ganz unfreiwillig dem Wähler einen Dienst erwiesen, zumal die Gefahr groß war, dass jede Menge jobhungrige Böcke die „Gartenarbeit“ verrichtet hätten.

Kritisch wurde es noch einmal, als Claudia Roth vor der Nacht der langen Verhandlungen die Fotografenfront abschritt und den anwesenden Journalisten ein neckisches Geheimnis lüftete. Auf die Frage, was sie so alles in ihrer Tasche mit sich führe, antwortete sie: Zahnpaste, Schminke, Nachtcremes und ein Kissen. Ich möchte wetten, sie hatte auch ihr Ne­g­li­gé dabei. Zu gern hätte ich mir den zarten Hauch des duftig-luftigen Nichts vorführen lassen. Aber selbst diese Freude war mir bei all den anstrengenden Fernsehstunden nicht vergönnt.

Während der fünfwöchigen Theateraufführungen hatten die „Wasserstandsmelder“ der Parteien Hochkonjunktur. Es machte uns Zuschauer atemlos, weil wir Tag für Tag teilhaben durften, wie Sondierungsgruppen in Kompaniestärke antraten und nichts zustande brachten. Der vermehrte Konsum von Häppchen allerdings nahm historische Dimensionen an. Trotz appetitlicher Kanapees zeigte kein einziger Verhandler überzeugende Problemlösungskompetenz. Am allerwenigstens die Kanzlerin. Impulse? Ideen? Visionen? Nichts von alledem. Stattdessen kauten alle mit vollen Backen auf dicken Brocken. Insofern kann man dankbar sein, dass Lindner dem Schauspiel ein Ende gesetzt hat.

Wie vorauszusehen, die größte Sprengkraft für die Parteien lag bei den anliegenden Themen Migration und Umwelt. Von den mindestens ebenso wichtigen Kapiteln wie Renten, Kinderarmut, Wohnungsnot, Bildungsfragen und Arbeitsbedingungen in der Gesundheitspflege war von keinem der Parteiführer irgendetwas Herzhaftes zu hören. Für den Bürger auch ein Grund aufzuatmen, denn jetzt braucht er wenigstens nicht mehr hoffen, jetzt kann er gleich in Lethargie versinken. Ich gebe mich jedenfalls nicht der Illusion hin, dass mit oder ohne Jamaika die sozialpolitischen Themen mit Schwung und Verve aufgegriffen werden.

Wie sagte die Kanzlerin gestern Nacht? „Nun muss man sehen, wie es weitergeht.“ Würde ein Abteilungsleiter bei Lidl oder REWE einen solchen Satz von sich geben, weil seine Mitarbeiter empört nach Hause gegangen wären, würde das sein allerletzter Arbeitstag gewesen sein. Nun sage ich: Mal sehen, wie es weitergeht. Ich befürchte, Angi wird uns noch ein Jahr erhalten bleiben. Bei objektiver Bewertung der Situation, könnte man den Hausmeister bitten, die Tür zum Bundestag abzusperren, in den nächsten 12 Monaten wird dort eh nicht mehr gearbeitet.

Anmerkung:

Der Beitrag von Claudio Michele Mancini wurde in „Scharblick“ am 20. November 2017 erstveröffentlicht.

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