Weshalb diese Produktion als bemerkenswerte Inszenierung nach Berlin eingeladen wurde, ist aus der Broschüre des Theatertreffens nicht ersichtlich. Juror Wolfgang Höbel zu Folge ist die Inszenierung „ein ziemlich herzzerreißender Gesang auf zwei Menschen, die ihre Liebe und ihre Würde retten wollen in düsterer Zeit“, und Christopher Schmidt, der die Inszenierung als „herausragendes Beispiel für eine fulminant gelungene Romanadaption“ bezeichnet, nennt den Roman einen „Sozial-Schmachtfetzen um die Selbstbehauptung in Zeiten der Krise.“
Luk Perceval, seit der Spielzeit 2009/2010 Leitender Regisseur am Hamburger Thalia Theater, hat in den drei Jahren zuvor als Hausregisseur an der Schaubühne das Berliner Theaterleben mitgeprägt und mit eigenwilligen Schiller- und Tschechow-Interpretationen für Diskussionen gesorgt.
Bei Fallada gibt es nicht viel zu interpretieren. Seine Romanfiguren verfügen nicht über rätselhafte Tiefen, die sich ausloten ließen. In einem im Programmheft abgedruckten Interview äußert sich Perceval u.a. zu der Kritik, in Falladas Roman fehle eine konkrete politische Aussage und erklärt hierzu, mit der Kreation einer individuellen kleinen Gemeinschaft, die von humanen Werten bestimmt ist, hätten die Hauptfiguren Pinneberg und Lämmchen einen Gegenentwurf realisiert zu den fatalen Strömungen einer aus den Fugen geratenen Welt.
Luk Perceval sagte: „Sie hauen einander nicht auf die Fresse, die beiden, sie fangen nicht an, bitter zu werden, da ist ein ständiger Versuch, moralisch sehr respektvoll und sauber miteinander umzugehen. Man hat nie das Gefühl, dass diese Ehe unter der Wirtschaftskrise und politischen Krise dieser Zeit kaputt geht (…)“ und: „In dem Sinn finde ich das eigentlich schon ein Gegenentwurf, den Fallada da am Ende sehr subtil und überhaupt nicht sloganhaft anbietet. Er glaubt an die Liebe. Die alte Liebe. Das alte Glück.“
Fundament dieses Liebes- und Ehemodells ist die Frau, Emma Mörschel, genannt Lämmchen. Hübsch ist sie nicht, aber gesund und kräftig, und Ehe und Mutterschaft sind ihr höchstes und einziges Ziel. Lämmchen schmeißt den Haushalt, hält das Geld zusammen, sucht Wohnungen, organisiert Umzüge, knüpft und pflegt soziale Kontakte, nimmt immer Anteil an den Problemen ihres Mannes und erweist sich, Dank ihres gesunden Menschenverstands, als kluge Ratgeberin. Selbstverständlich steht Lämmchen ihrem Mann auch sexuell immer zur Verfügung, und als sie, bei fortgeschrittener Schwangerschaft, dazu nicht bereit ist, hat sie ein schlechtes Gewissen. Als Pinneberg arbeitslos wird, beweist Lämmchen, dass sie auch Geld verdienen kann. Niemals kommt ein Wort der Klage über Lämmchens Lippen, nie verliert sie die Hoffnung, wieder und wieder tröstet sie ihren Mann und gibt ihm neuen Mut.
Falladas Roman erschien 1932, kurz bevor die Nationalsozialisten an die Macht kamen, die den Typ Frau í la Lämmchen zum Idealbild der deutschen Frau und Mutter erhoben. 1932 gab es auch noch eine starke Frauenbewegung, die ganz andere Lebensentwürfe für Frauen proklamierte – – Es ist besser, sich nicht allzu viele Gedanken zu machen und Luk Percevals Inszenierung einfach als nicht sehr gehaltvolle Unterhaltung zu konsumieren.
Das Elend, das hier präsentiert wird, wirkt immer anheimelnd, und was die handelnden Personen angeht, so gibt es, neben den beiden ganz und gar Guten, etliche Charakterschwache und auch ein paar wirklich Unangenehme, die jedoch so überzeichnet sind, dass sie eher komisch wirken.
Im letzten Jahr wurde Annette Paulmann beim Preiskampf für den 3sat-Preis vorgeschlagen aufgrund ihrer schauspielerischen Leistungen in Andreas Kriegenburgs Adaption von Kafkas Roman „Der Prozeß“. Jetzt spielt Annette Paulmann das Lämmchen, und ganz zu Beginn scheint noch einmal einer der Josef K. auf der Bühne zu stehen, so adrett und artig. Aber das ist nur ein erster Eindruck von der schüchternen Emma während sie einen Frauenarzt konsultiert.
Nach festgestellter Schwangerschaft und unmittelbar darauf folgendem Heiratsantrag vom anständigen, pflichtbewussten Johannes Pinneberg zeigt sich das zunächst verwirrte und verdruckste Lämmchen als handfeste Persönlichkeit, deren Warmherzigkeit und Liebenswürdigkeit einen unwiderstehlichen Zauber ausüben.
In Paulmanns Darstellung scheinen die Mütterrollen aus den Stücken von Hauptmann und Brecht mit angedacht zu sein. Annette Paulmann wächst über die allzu niedliche Fallada-Gestalt hinaus und erweckt, nicht einen Typus, sondern ein unverwechselbares Individuum zum Leben.
Kostümbildnerin Ilse Vandenbussche hat Lämmchen mit einem weiß gepunkteten blauen Kleid ausgestattet, dazu eine farblich unangenehm kontrastierende, zu enge grüne Strickjacke. Lämmchen stammt aus einem Arbeitermilieu, in dem Eleganz eher verdächtig ist. Der Angestellte Johannes Pinneberg dagegen präsentiert sich in einem gut geschnittenen grauen Anzug.
Standesunterschiede spielen jedoch keine Rolle in der jungen Ehe der Pinnebergs. Johannes ist stolz auf sein Lämmchen, von dem er so mütterlich umsorgt wird, dass er es sich erlauben kann, ein Junge zu bleiben, der nicht erwachsen werden muss.
Für Paul Herwig ergeben sich reizvolle Möglichkeiten, sich spielerisch auszutoben. Sein Pinneberg ist immer in Bewegung, nervös, unausgeglichen, manchmal auch nervtötend in seiner Einfältigkeit und seinem Selbstmitleid. Trotzdem bleibt er immer sympathisch. In dieser Inszenierung ist alles ausgewogen und geglättet.
Wenn Paul Herwig als gestresster Verkäufer die Dialoge des Kunden und seiner Frau gleich mit spricht oder wenn er dem berühmten Schauspieler, der sich alles vorführen lässt und dann doch nichts kauft, verzweifelt bittend die Schuhe küsst, dann sind das brillante Kabarettnummern, in denen die Tragödie untergeht.
Später läuft Pinneberg, der sich verirrt hat, verzweifelt durch die Nacht. Da ergibt sich ein beeindruckender Anblick, denn während Paul Herwig mit rudernden Armen auf der Stelle rennt, fällt sein Schatten auf das Orchestrion, und es sieht so aus, als säße dort ein rasender Organist, der in die Tasten greift.
Neben dem Orchestrion hat Bühnenbildnerin Annette Kurz nur wenige wechselnde Möbelstücke auf die Bühne gestellt. Trotzdem werden die unterschiedlichen Schauplätze in allen Details deutlich sichtbar durch die AkteurInnen, die ganz selbstverständlich mit Dingen umgehen, die real nicht vorhanden sind. Zudem lässt Luk Perceval immer wieder beschreibende Erzähltexte aus dem Roman vortragen, die dann in Dialoge übergehen. Hier wird sehr überzeugend ein Buch zum Leben erweckt.
Um die beiden Hauptfiguren herum ist ein großartiges Ensemble zu erleben, das in Mehrfachbesetzungen die übrigen Figuren verkörpert.
Gundi Ellert gibt Pinnebergs Mutter, eine alternde Diva, geschminkt wie ein Stummfilmstar, heruntergekommen, versoffen und würdelos, obwohl auch bei dieser Darstellung die Grenzen des guten Geschmacks nicht überschritten werden. Mia Pinneberg, von der Johannes sich abgewendet hat, weil sie eine schlechte und verantwortungslose Mutter war, ist ein verschlissenes Überbleibsel der tollen, unmoralischen 20er Jahre, mit denen dann ja die Nazis – aber so ist das hier nicht gemeint.
Hans Kremer erscheint zu Beginn als Lämmchens Mutter, bodenständige Arbeiterfrau mit barscher Herzlichkeit und Hamburger Akzent und erweckt Erinnerungen an die Hamburger Schauspielerin Gerda Gmelin. Später verkörpert Kremer Jachmann, Mia Pinnebergs Liebhaber, einen Ganoven mit sehr viel Charme und eigentlich gutem Herzen.
Überraschend unangenehm entwickelt sich der anfänglich aufrechte und mutige Verkäufer Heilbutt (André Jung). Er entpuppt sich schließlich als schmieriger Vertreiber von Pornographie.
Heilbutt wie auch die übrigen Figuren des Stücks, prägnant dargestellt von Wolfgang Pregler, Stefan Merki, Peter Brombacher und Tina Keserovic, scheinen blind auf die Zeit zuzutreiben, in der ja angeblich erst einmal alles besser zu werden schien.
Die Vorstellung ist niemals langweilig, mit vier Stunden Dauer aber doch etwas zu lang. Das Publikum honorierte diese Produktion der Münchner Kammerspiele mit vielen Bravos und großem Applaus.