Berlin, Deutschland (Weltexpress). Halleluja! Endlich fand ich einen Punkt, bei dem ich mit Benjamin Netanjahu übereinstimme. Wirklich!
An diesem Montag versammelte sich die Knesset nach einer langen (aber leider zu kurzen) Pause für seine Wintersitzung. Bei solchen Gelegenheiten werden der Staatspräsident und der Ministerpräsident aufgefordert zu sprechen. Die Reden werden vermutlich festlich sein, voll frommer Platituden. In ein Ohr rein, im anderen raus.
Doch diesmal nicht.
Neben dem Knesset-Sprecher saß Reuven Rivlin, der Präsident von Israel. Er hielt eine Rede, die in jeder Hinsicht beispiellos war. Er griff die von Likud beherrschte Regierungskoalition an und klagte sie an, die Herrschaft des Gesetzes, den Staatsanwalt und die Polizei zu unterminieren.
Der Präsident ist kein Linker – auf keinen Fall. Er gehört der nationalen Rechten an. Seine Ideologie ist die „des ganzen Erez Israel“. Er ist ein Mitglied der Likud-Partei.
Um ihn zu verstehen, muss man zu Vladimir Jabotinsky zurückgehen, der in den 1920er Jahren die revisionistische Partei gegründet hat, eine Vorgängerin der zionistischen Rechten. Jabotinsky wurde im zaristischen Odessa geboren und dort aufgezogen; er studierte aber in Italien, als das Risorgimento noch jedem frisch in Erinnerung war. Dieses war eine ungewöhnliche Mischung von extremem Nationalismus und extremem Liberalismus und Jabotinsky nahm dies für sich an.
Das Portrait von Jabotinsky hängt in jedem Likud-Büro, doch seine Lehren sind seit langem von der gegenwärtigen Likud Mitgliederschaft vergessen worden, abgesehen von ein paar Oldtimers, wie Rivlin, der 78 Jahre alt ist. Er wurde 1939 geboren. Er gehörte einer speziellen Gruppe von Leuten an: den Nachfahren europäischer Juden, die lange bevor die zionistischen Bewegung gegründet wurde, nach Palästina kamen. Sein Vater war ein Spezialist der arabischen Kultur.
Rivlin ist einer der nettesten Leute, die ich kenne. Jeder mag ihn. Jeder, abgesehen von Netanjahu, der mit seltener Voraussicht gegen seine Nominierung war.
Netanjahu hörte sich Rivlins Rede mit eiskalter Miene an. Dann erhob er sich und hielt seine Rede – eine Rede, die schon lange vor der Sitzung vorbereitet war, die aber klang, als hätte Rivlin sie gehört, bevor er seine eigene Rede vorbereitete.
Der Ministerpräsident griff das Oberste Gericht, den Staatsanwalt, den Chef der Polizei, die Medien und die Linke an, als ob sich all diese im Geheimen getroffen hätten, um seine Absetzung vorzubereiten. Dies war ganz ungewöhnlich, da der Staatsanwalt und der Polizeichef seine eigene persönliche Wahl waren. Nach ihm hätten diese ein Komplott ausgeheckt, um ihn in einem anti-demokratischen Komplott abzusetzen, einem Putsch durch polizeiliche Ermittler und Strafverfolger. Die häufigen Lecks dieser Untersuchungen, die weithin in den Medien veröffentlicht wurden, waren – nach Netanjahu –Teile des Komplotts.
Tatsächlich war die Öffentlichkeit über die Untersuchungen gut informiert worden. Eine von ihnen betraf die teuren Geschenke, die Netanjahu von Multi-Millionären vermacht wurden, obwohl er selbst schon sehr reich ist. Die Geschenke schlossen sehr teure Zigarren ein und deshalb wurde dieser Bestechungsfall „der Zigarren-Fall“ genannt
Dieselben und andere Millionäre vermachten auch Sarah, Netanjahus sehr unbeliebter Frau auch teure Geschenke. Unter diesen war rosa Champagner und deshalb wurde er der „Rosa-Champagner-Fall“ genannt.
Doch dies sind Bagatellen, verglichen mit einer schwarzen Wolke, die sich Netanjahu nähert und „U-Boot-Fall“ genannt wird. Er betrifft den Erwerb von U-Booten und Korvetten von einer deutschen Werft. Seitdem deutsche Waffen-Produzenten dafür bekannt sind, riesige Summen Bestechungsgelder den Chefs rückständiger Länder zu zahlen, war wirklich keiner über Gerüchte überrascht, dass viele Zehnmillionen Euros an israelische Politiker, Admiräle und Vermittler gezahlt wurden. Aber wo stoppten die Euros? Bevor sie die Spitze erreichten?
Die Reaktion Netanjahus sprach lauter als die Gerüchte. Sie hat seine Manie über die iranische Atombombe, die schreckliche Gefahr der Hisbollah und sogar die verräterische israelische Linke ersetzt. Sie scheinen seine Hauptbeschäftigung zu sein.
Um der Kabale ein Ende zu setzen: Netanjahu und seine Lakaien kamen auf eine einfache Lösung: das „französische Gesetz“ anzunehmen. Dies ist jetzt die Hauptbeschäftigung der israelischen Regierung und der Likud-Partei zum Nachteil von allem anderen. Es sagt einfach, dass keine Strafverfolgung oder Anklage gegen einen noch „im Amt befindlichen Ministerpräsidenten“ ausgeführt werden darf.
Wie es aussieht, gibt es einigen Sinn darin. Unser Ministerpräsident muss die Angelegenheiten des Staates regeln, den nächsten Krieg planen (es gibt immer einen nächsten Krieg) und das wirtschaftliche Wachstum fördern – alles Funktionen, die darunter leiden, wenn er mit Dutzenden von Straffällen beschäftigt ist. Beim zweiten Gedanken bedeutet es, dass ein Krimineller im höchsten Amt sitzt und dass der Ministerpräsident – er und kein anderer im Land – von einer Strafverfolgung ausgeschlossen wird.
Stimmt, nach diesem Gesetz werden die Strafverfolgungen nur solange ausgesetzt, bis der Ministerpräsident wieder ein normaler Bürger wird. Aber Netanjahu ist in seiner vierten Vier-Jahres-Amtszeit und alles deutet daraufhin, dass er beabsichtigt, noch eine fünfte, sechste und siebte Amtszeit zu erleben, falls Gott – er möge gesegnet sein – sein Leben entsprechend verlängert.
Kein anderer Führer in der demokratischen Welt erfreut sich solch eines Privilegs, außer einem: der französische Präsident. Es wird das „französische Gesetz“ genannt – doch da gibt es riesige Unterschiede. Das französische Gesetz schützt den Präsident vor Strafverfolgung, während er im Amt ist, aber nicht den Ministerpräsidenten. Und da ist noch ein sehr großer Unterschied: die Amtszeit des französischen Präsidenten beträgt nur zwei Amtszeiten von fünf Jahren – so dass die Verschiebung zeitlich nicht zu lange ist.
Zu diesem Zeitpunkt wird die ganze Regierungsmaschinerie in Bewegung gesetzt, um diese juristische Abscheulichkeit in ein Gesetz zu verwandeln.
Einige der Partner der Likud-Koalition sperren sich dagegen. Diese Koalition besteht aus vielen Parteien – sechs, wenn ich richtig zähle – und wenn sich eine davon der Stimme enthält, mag es unruhig werden. Im Augenblick haben zwei verkündet, dass sie ihren Mitgliedern „freie Hand“ geben werden.
Erzürnt droht Netanjahus Koalitionschef, die Regierung aufzulösen und neue Wahlen zu erklären – eine ernste Drohung für alle Koalitionspartner, die einem Verlust gegenüberstehen.
In der Likud Partei selbst gibt es keine einzige Meinungsverschiedenheit, keinen einzigen tapferen Rebellen wie die beiden republikanischen Senatoren in Amerika, die sich in dieser Woche Präsident Trump widersetzten.
Doch Präsident Rivlin verurteilte das vorgeschlagene Gesetz auf strengste Weise, und der Staatsanwalt nannte es „absurd“.
Wo also stimme ich mit Netanjahu überein? An einem Punkt: Er griff die Linke an, die eine „Depressions-Anlage“ besitzt, die nur eine saure Stimmung erzeugt.
Im Hebräischen gibt es einen Ausdruck für saure Lebensmittel, wie z.B. saure Gurken. Es mag mit „Saurem“ übersetzt werden. Netanjahu sagte, dass die Linke eine saure öffentliche Stimmung erzeugt, um ihn zu stürzen.
Einige Leser mögen sich daran erinnern, dass ich die Linke derselben Krankheit angeklagt habe, wenn auch aus einem anderen Blickwinkel. Es gibt innerhalb großer Strecken des israelischen Friedenslagers einen Gemütszustand der Depression, einen Gemütszustand der Verzweiflung, tatsächlich einen sauren Gemütszustand.
Dieser Zustand führt zu dem Eindruck, dass wir nichts tun können, um unsern Staat zu retten, der von Netanjahu und seinen Lakaien in die Katastrophe geführt wird. Ein eher bequemer Gemütszustand, da er bedeutet, dass wir nichts tun können und wir nichts riskieren müssen, weil die Schlacht sowieso verloren ist.
Einige ziehen die Schlussfolgerung, dass die Schlacht anderswo ausgefochten werden muss, bei weitem nicht hier, wie zum Beispiel der Aufruf der BDS, um alles Israelische zu boykottieren. In diesen Tagen hat diese Schlacht absurde Höhen erreicht, als eine US-Stadt, die tödlich vom schweren Hurrikan getroffen wurde, verkündigte, dass die Bürger nur dann eine Wiedergutmachung erhalten werden, wenn sie sich verpflichten, sich nicht am Boykott gegen Israel zu beteiligen. Tatsächlich, ein Land der unbegrenzten Absurditäten.
Übrigens veröffentlichte Haaretz in dieser Woche, dass unsere Regierung eine juristische Firma der USA angeheuert habe, um gegen BDS zu kämpfen.
Eine saure Gemütsstimmung weckt keine Kämpfer. Ein glückliches Gemüt schafft Kämpfer. Wenn die Situation schlecht ist, wenn sie hoffnungslos aussieht, kann ein Haufen glücklicher Kämpfer den Ausgang der Schlacht ändern.
Es gibt keinen Grund zu verzweifeln. Geschichte wird nicht von Gott geschaffen. Wir sind es, die sie schaffen.
Wenn man vom französischen Präsidenten spricht – erinnern wir uns daran, dass Emmanuel Macron aus dem Nirgendwo erschien, eine neue Partei gründete und beim ersten Versuch eine absolute Mehrheit errang. Wenn die Franzosen dies können, können wir das auch.
Verzweiflung, Depression, das ist alles Luxus, den wir uns nicht leisten können. Wir müssen mit Hoffnung und Selbstvertrauen wieder zur Schlacht zurückkehren.
Wie Obama sagte: Ja, wir können.
Lasst uns guten Mutes sei. Lasst uns die Schlacht wieder fröhlich beginnen.
Der oben erwähnte Jabotinsky schrieb eine historische Novelle über den biblischen Held Simson. Kurz bevor er den Tempel der Philister über sich zum Einsturz brachte, vermachte er seinem Volk ein Testament mit drei Forderungen: wählt einen König, sammelt Eisen und – lacht!
Anmerkungen:
Vorstehender Beitrag von Uri Avnery wurde vom Englischen ins Deutsche von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Unter www.uri-avnery.de erfolgte am 3. November 2017 die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.