Jetzt hat der lettische Regisseur, seit 1997 Leiter des Neuen Theaters in Riga, zum ersten Mal in Berlin inszeniert und präsentiert an der Schaubühne die Bühnenadaption von Alexander Puschkins in den 1820er Jahren entstandenem Roman in Versen „Eugen Onegin“.
Das umfängliche Werk des russischen Nationaldichters in weniger als zwei Stunden auf der Bühne abzuhandeln, ist zweifellos unmöglich. Alvis Hermanis hat sich mit fünf SchauspielerInnen auf eine Entdeckungsreise begeben, um die Welt zu erkunden, in der die Figuren des Romans sich bewegen.
Andris Freibergs hat mit Elena Zykova ein historisch getreues, detailreiches Bühnenbild geschaffen. Über die gesamte Bühnenbreite sind nebeneinander unterschiedlich möblierte Räume aufgebaut, Schlafzimmer, Herrenzimmer, Ankleide- und Schreibzimmer, dazwischen eine hölzerne Gartenbank. Es gibt keine Trennwände, und durch ihre geringe Tiefe wirken die Räume klein wie die Zimmer einer Puppenstube.
Auftrittsmöglichkeiten bieten nur die Türen in der Rückwand. Die SchauspielerInnen kommen zu Beginn durch eine weiße Flügeltür herein, verteilen sich in den Zimmern und bleiben bis zum Schluss auf der Bühne.
Bei gedämpftem Licht nimmt ein Mann mit kahlem Kopf in einem Lehnsessel im Herrenzimmer mit den vielen in Leder gebundenen Büchern Platz und beginnt mit leichtem Akzent zu sprechen. Einen Augenblick lang entsteht der Eindruck, es sei der Regisseur, aber es ist, sofort erkennbar wenn das Licht etwas heller wird, Robert Beyer, der den Erzähler spielt und in akzentfreiem Deutsch über Puschkin und seine Zeit plaudert.
Auf der Rückwand oberhalb der Bühne sind Gemälde mit den Porträts junger Frauen zu sehen. 113 Geliebte hat Alexander Puschkin aufgelistet, bevor er heiratete, und 29mal hat er sich duelliert, bevor er 1837 an den Folgen eines Duells starb.
Auch die anderen Mitwirkenden melden sich zu Wort mit Kommentaren und Anekdoten, in die sich dann mehr und mehr Puschkins Verse in der Übersetzung von Ulrich Busch hineinmischen.
Dramaturgin Carola Dürr und Dramaturg Florian Borchmayer haben eine hervorragende Textfassung komponiert, eine gelungene Collage aus sozialgeschichtlichen Essays, Randbemerkungen und Romanzitaten.
Alle SchauspielerInnen tragen zunächst heutige Alltagskleidung. Dann aber öffnen sich zwei der kleineren Türen, zwei Garderobieren kommen herein und leisten Hilfe beim Anlegen der von Eva Dessecker sehr sorgfältig ausgewählten Kostüme und Perücken.
Sich allein anzuziehen war den Damen und Herren der vornehmen Gesellschaft des 19.Jhs. nicht möglich. Wichtigster Grund dafür war das Korsett, in das auch die Herren geschnürt werden und über das, wie auch über sonstige Unterwäsche und zeitgemäße Hygiene, Informatives und Anekdotisches mitgeteilt wird.
Während die AkteurInnen mit der sehr schönen, wenn auch unbequemen, Kleidung ausgestattet werden, schlüpfen sie in ihre Rollen.
Tilman Strauß ist der Titelheld, der blasierte Dandy, der sich in Sankt Petersburg amüsiert hat und nun auf seinem ererbten Landgut Stille und Einsamkeit erfährt.
Sebastian Schwarz verkörpert den Dichter Lenskij, der in Göttingen studiert hat und mit dem Onegin sich anfreundet.
Eva Meckbach und Luise Wolfram sind Tatjana und Olga, die Töchter eines benachbarten Gutsbesitzers. Beeinflusst von der Lektüre französischer Romane schreibt Tatjana einen leidenschaftlichen Liebesbrief an Onegin, wird von diesem jedoch zurückgewiesen. Mit Olga, der Auserwählten von Lenskij, tanzt Onegin aufreizend bei einer gesellschaftlichen Zusammenkunft. Daraufhin bleibt Lenskij nichts anderes übrig, als seinen Freund zum Duell zu fordern.
Robert Beyer wird nun ebenfalls historisch kostümiert und mit Löckchenperücke verfremdet. Er verwandelt sich in Lenskijs Anwalt und Sekundanten und liefert Informationen über Duellgebräuche wie auch über das ungewöhnliche Verhalten Onegins bei diesem Duell, in dem Lenskij getötet wird.
In der Inszenierung von Alvis Hermanis wird Puschkins Versepos nicht zum Schauspiel. Der Erzählton bleibt erhalten. Die handelnden Personen sind wie Erscheinungen, die beim Lesen aus den Seiten des Buches aufsteigen.
Die einzelnen Charaktere sind hervorragend skizziert und werden aus heutiger Perspektive liebevoll ironisch beobachtet.
Die Vorstellung kommt ohne Musik aus. Für die nostalgische Stimmung sorgen die Ausstattung, von Erich Schneider in warmes Licht getaucht, sowie die wechselnden zeitgenössischen Gemälde, die auf die Rückwand projiziert werden.
In einer glänzenden Ensembleleistung gelingen den fünf SchauspielerInnen die häufigen Übergänge von präziser Darstellung und distanzierter Betrachtung, die sich mit harmonischer Leichtigkeit vollziehen. Spannung entsteht aus der faszinierenden Konzentration auf die Entwicklungsabläufe.
Die literarische Vorlage kommt ein bisschen zu kurz, aber das Eintauchen in die Gesellschaft des russischen Landadels zu Beginn des 19. Jhs. wird für das Publikum zu einem traumhaft schönen, ebenso amüsanten wie lehrreichen, Erlebnis.
„Eugen Onegin“ nach Alexander Puschkin, inszeniert von Alvis Hermanis hatte am 25.11. Premiere in der Schaubühne am Lehniner Platz. Weitere Vorstellungen: 25., 26. und 27.12.2011, jeweils 19.30 Uhr.