Die interviewten Aktivisten und Aktivistinnen, junge und alte – eine große Anzahl von ihnen Juden – demonstrieren auf Supermärkten gegen die Produkte der Siedlungen und/oder Israels im allgemeinen, organisieren Massentreffs, halten Reden, mobilisieren Gewerkschaften, erheben Klagen gegen israelische Politiker und Generäle.
Nach dem Bericht benutzen verschiedene Gruppen ähnliche Methoden, aber es gibt keine zentrale Führung. Er zitiert sogar (ohne Namen, natürlich) die Überschrift von einem meiner letzten Artikel, „Die Protokolle der Weisen von Anti-Zion“ und stellen, wie ich, fest, so etwas gebe es nicht. Er besagte tatsächlich, es sei gar keine weltweite Organisation nötig, weil überall spontane pro-palästinensische und anti-israelische Gefühle auftauchen. Seit kurzem, nach der „Cast Lead“-Operation und der Flotilla-Affäre, habe sich der Prozess beschleunigt.
An vielen Orten – so enthüllt der Bericht – gebe es rot-grüne Koalitionen: Kooperationen zwischen linken Menschenrechtsorganisationen und örtlichen Gruppen muslimischer Immigranten.
Die Schlussfolgerung der Geschichte: dies ist eine große Gefahr für Israel, und wir müssen uns dagegen mobilisieren, bevor es zu spät sei.
Die erste Frage, die sich mir stellte, war: welchen Einfluss wird dieser Bericht auf den durchschnittlichen Israeli haben?
Ich wünschte, ich könnte sicher sein, dass er ihn oder sie veranlasst, noch einmal über die Rentabilität der Besatzung nachzudenken. Wie einer der interviewten Aktivisten in der Reportage sagte: die Israelis müssen dahin gebracht werden, zu verstehen, dass die Besatzung ihren Preis hat.
Ich würde gerne glauben wollen, dies würde die Reaktion der meisten Israelis sein. Doch ich fürchte, dass die Wirkung ganz anders ausfallen wird.
Wie das fröhlich klingende Lied aus den 70er-Jahren lautet: „Die ganze Welt ist gegen uns/ Das ist nicht so schrecklich,/wir werden damit fertig./ denn auch wir kümmern uns nicht um sie.// Wir haben dieses Lied von unsern Vorvätern gelernt/ wir werden es auch unsern Söhnen vorsingen/ Und die Enkel unserer Enkel werden es singen/ hier im Lande Israel./ Und jeder, der gegen uns ist,/ kann zur Hölle fahren .“
Dem Autor dieses Liedes Yoram Taharlev ( „Reines Herz“) ist es gelungen, eine grundsätzlich jüdische Überzeugung zum Ausdruck zu bringen, die sich im Laufe von Jahrhunderten der Verfolgung im christlichen Europa mit dem Höhepunkt des Holocaust herauskristallisierte. Jedes jüdische Kind lernt in der Schule, dass, als sechs Millionen Juden ermordet wurden, die ganze Welt zuschaute und keinen Finger rührte, um sie zu retten.
Dies stimmt nicht ganz. Zehntausende von Nichtjuden riskierten ihr Leben und das ihrer Familien, um Juden zu retten – in Polen, Dänemark, Frankreich, Holland und anderen Ländern, sogar in Deutschland selbst. Wir alle kennen Leute, die auf diese Weise gerettet wurden: vom früheren Präsidenten des Obersten Gerichts Aharon Barak, der als Kind von einem polnischen Bauern aus dem Ghetto geschmuggelt wurde, bis zum Minister Yossi Peled, der jahrelang von einer katholisch-belgischen Familie versteckt worden war. Nur wenige dieser meist unbesungenen Helden wurden als „Gerechte der Völker“ von Yad Vashem zitiert. (Unter uns gesagt: Wie viele Israelis würden in ähnlicher Situation ihr Leben und das ihrer Kinder riskieren, um einen Ausländer zu retten?)
Aber die Überzeugung, dass „die ganze Welt gegen uns ist“, ist tief in unserer nationalen Psyche verwurzelt. Es versetzt uns in die Lage, die Reaktion der Welt auf unser Verhalten zu ignorieren. Es ist sehr praktisch. Wenn uns doch die ganze Welt hasst, dann spielt die Art unserer Taten, ob sie gut oder schlecht sind, keine Rolle. Sie würden Israel hassen, selbst wenn wir Engel wären. Die Gojim sind eben Antisemiten.
Es ist leicht zu zeigen, dass auch dies nicht stimmt. Die Welt liebte uns, als wir den Staat Israel gründeten und ihn mit unserm Blut verteidigten. Einen Tag nach dem Sechs-Tage-Krieg applaudierte uns die ganze Welt. Sie liebte uns, als wir David waren, sie hasst uns, wenn wir Goliath sind.
Dies überzeugt die Leute von „Die Welt ist gegen uns“ nicht. Warum gibt es keine weltweite Bewegung gegen die Brutalitäten der Russen in Tschetschenien oder der Chinesen in Tibet? Warum nur gegen uns? Warum verdienen die Palästinenser mehr Sympathie als die Kurden in der Türkei?
Man könnte antworten, da Israel in allem eine Sonderbehandlung verlange, werden wir mit Sonderstandards gemessen, wenn man auf die Besatzung und die Siedlungen zu sprechen kommt. Aber die Logik spielt hier keine Rolle. Es ist der nationale Mythos, der zählt.
Gestern veröffentliche Israels drittgrößte Tageszeitung, Ma’ariv eine Geschichte über unsere Botschafterin bei den Vereinten Nationen unter der enthüllenden Überschrift: „Hinter der Feindlinie“.
Ich erinnere mich an einen der Zusammenstöße, die ich nach Beginn des Siedlungsunternehmens und den entrüsteten Reaktionen in aller Welt mit Golda Meir in der Knesset hatte. So wie jetzt gaben die Leute unserer fehlerhaften „Aufklärung“ alle Schuld. Die Knesset hielt eine allgemeine Debatte.
Ein Redner nach dem anderen deklamierte das übliche Klischee: die arabische Propaganda ist brillant. Unsere „Aufklärung“ ist unter aller Kritik. Als ich an der Reihe war, sagte ich: Es ist nicht die Schuld der „Aufklärung“. Die beste „Aufklärung“ der Welt kann die Besatzung und die Siedlungen nicht weg erklären. Wenn wir die Sympathie der Welt erlangen wollen, dann sind es nicht unsere Worte, die sich ändern müssen, sondern unsere Taten.
Während der Debatte stand Golda Meir – wie es ihre Gewohnheit war – an der Tür des Plenums und rauchte eine Zigarette nach der anderen. Am Ende antwortete sie jedem Redner der Reihe nach, ignorierte aber meine Rede. Ich dachte, sie würde mich boykottieren, als sie sich – nach einer dramatischen Pause – an mich wandte: „ Der Abgeordnete Avnery denkt, sie hassen uns wegen dessen, was wir tun. Er kennt die Gojim (Nicht-Juden) nicht. Die Gojim lieben die Juden, wenn sie geschlagen werden und es ihnen schlecht geht. Sie hassen die Juden, wenn sie siegen und erfolgreich sind.“ Wenn das Klatschen in der Knesset erlaubt wäre, wäre das ganze Haus in donnernden Applaus ausgebrochen.
Es besteht die Gefahr, dass der augenblickliche weltweite Protest dieselbe Reaktion auslösen wird: dass die israelische Öffentlichkeit sich gegen die bösen Gojim statt gegen die Siedler vereinigen wird.
Einigen der Protestgruppen ist das auch völlig gleich. Ihre Aktionen sind nicht an die israelische Öffentlichkeit gerichtet, sondern an die internationale.
Ich meine jetzt nicht die Antisemiten, die auf dieser Welle mitzuschwimmen versuchen. Sie sind eine zu unwichtige Gesellschaft. Ich meine auch nicht die, die glauben, dass die Schaffung des Staates Israel ein historischer Fehler war und dass er aufgelöst werden sollte.
Ich meine all die Idealisten, die ein Ende der Unterdrückung des palästinensischen Volkes und des Landraubes durch die Siedler erhoffen und den Palästinensern helfen wollen, den freien Staat Palästina zu gründen.
Diese Ziele können nur durch Frieden zwischen Palästina und Israel erreicht werden. Und solch ein Frieden kann nur kommen, wenn die Mehrheit der Palästinenser und die Mehrheit der Israelis dies unterstützen. Druck von außen genügt nicht.
Jeder, der dies versteht, muss an einem weltweiten Protest interessiert sein, der die israelische Öffentlichkeit nicht in die Arme der Siedler treibt, sondern im Gegensatz dazu, die Siedler isoliert und die Allgemeinheit sich gegen sie wendet.
Wie kann dies erreicht werden?
Das erste wäre, klar zwischen dem Boykott der Siedlungen und einem allgemeinen Boykott gegen Israel zu unterscheiden. Der Fernsehbericht machte klar, dass viele der Protestierenden nicht die Grenze zwischen beidem sehen. Sie zeigte eine Britin mittleren Alters in einem Supermarkt, die einige Früchte über ihrem Kopf schwenkte und rief: „Dies kommt aus einer Siedlung!“ Dann zeigte er eine Demonstration gegen die Ahava-Kosmetik-Produkte, die im palästinensischen Teil des Toten Meeres produziert werden. Aber direkt danach kam ein Aufruf für den Boykott aller israelischen Produkte. Vielleicht waren die Protestierenden – oder die Editoren des Filmes – sich des Unterschieds nicht bewusst.
Auch die israelische Rechte will den Unterschied verwischen. Zum Beispiel: Eine Gesetzesvorlage in der Knesset will jene strafen, die einen Boykott der Produkte Israels unterstützen, einschließlich – wie es extra heißt – der Produkte aus den Siedlungen.
Wenn der Weltprotest klar gegen die Siedlungen gerichtet ist, wird er vielen Israelis deutlich machen, dass es eine klare Linie zwischen dem legitimen Staat Israel und der illegitimen Besatzung gibt.
Dies stimmt auch für andere Teile der Geschichte: zum Beispiel der Versuch, die Caterpillar-Gesellschaft, deren monströse Bulldozer eine der größeren Waffen der Besatzung ist, zu boykottieren. Als die heldenhafte Friedensaktivistin Rachel Corrie von einem dieser Maschinen zu Tode gequetscht wurde, hätte die Gesellschaft vor jeder weiteren Lieferung von Bulldozern gestoppt werden müssen, bis sicher war, dass sie nicht mehr zur Unterdrückung verwendet werden würden.
Solange keine verdächtigen Kriegsverbrecher tatsächlich in Israel selbst vor Gericht gebracht werden, kann man nicht gegen Initiativen sein, die vorschlagen, sie im Ausland anzuklagen.
Nachdem die wichtigsten israelischen Theater in dieser Woche Entscheidungen trafen, Vorstellungen in den Siedlungen zu geben, ist es logisch, dass sie im Ausland boykottiert werden. Wenn sie in Ariel Geld verdienen wollen, sollten sie sich nicht beklagen, in Paris und London keines zu verdienen.
Die zweite Sache wäre die Verbindung zwischen diesen Gruppen und der israelischen Öffentlichkeit.
Die große Mehrheit der Israelis sagt jetzt, dass sie Frieden wünscht und bereit ist, einen Preis zu zahlen, aber dass die Araber leider keinen Frieden wollen. Das große Friedenslager, das einmal Hunderttausende auf die Straßen schicken konnte, ist in einem Zustand der Depression. Es fühlt sich isoliert. Unter anderem ist seine einst nahe Verbindung mit den Palästinensern, wie sie zur Zeit Yassir Arafats nach Oslo bestand, sehr locker geworden. So ist es auch mit den Protestgruppen im Ausland.
Wenn man das Ende der Besatzung beschleunigen will, muss man den Friedensaktivisten in Israel helfen. Man muss eine enge Verbindung mit ihnen schaffen. Das Komplott des Schweigens ihnen gegenüber in den Medien der Welt brechen und ihre mutigen Aktionen veröffentlichen, mehr internationale Veranstaltungen schaffen, in denen palästinensische und israelische Friedensaktivisten neben einander präsent sind. Es wäre auch schön, wenn auf je zehn Milliardäre, die die extreme Rechte in Israel finanzieren, es wenigstens einen Millionär gäbe, der Friedensaktionen unterstützt.
All dies ist nicht möglich, wenn man zu einen Boykott aller Israelis aufruft, ohne Rücksicht auf ihre Ansichten oder Aktionen. So wird Israel als ein monolithisches Monster dargestellt. Dieses Bild ist nicht nur falsch, es schadet auch sehr.
Viele der Aktivisten, die in dem Bericht erscheinen, lassen Respekt und Bewunderung hochkommen. So viel guter Wille! So viel Mut! Wenn sie ihre Aktivitäten in die richtige Richtung lenken , könnten sie eine Menge Gutes bewirken – Gutes für die Palästinenser und auch Gutes für uns Israelis.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der Beitrag wurde unter www.uri-avnery.de am 28.08.2010 erstveröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.