Richard Price: „Cash“ aus dem Fischer Verlag auf Platz 1 der zehn besten Krimis – Krimiwelt – Die Bestenliste von Welt, Arte und NordwestRadio für August 2010

Aber all diese vorne liegenden Kriminalromane sind in unserer Kommentierung schon besprochen worden bei ihrer Erstnennung, bitte also in den vormonatlichen Artikel nachschauen. Wir versuchen jedes Mal, die neu auf die Liste gekommenen Bücher vorzustellen. Das ist diesmal die Nummer 3 mit „Scheiterhaufen“ von Derek Nikita, erschienen im Seeling Verlag, wo der Verlagsinhaber Jens Seeling auch sein eigener Übersetzer ist, aber auch derjenige, der Nikitas, der neu im Krimigeschäft ist, für unser Publikum entdeckte. Der Autor ist einer der Produkte der in Amerika beliebten akademischen Schreibwerkstätten, sprich er absolvierte einen Master of Creative Writing und wurde dann in derselben Disziplin Hochschullehrer. Wie gut, wenn die Praxis mit der Theorie übereinstimmt! Denn in diesem Erstling spricht kein Anfänger, sondern einer, der um die Ausweglosigkeit weiß, wenn eine Fünfzehnjährige ihrer Kindheit dadurch entwächst, dass sie mit ansehen muss wie ihr eigener Vater erschossen wird. In diesen Tod werden lauter Frauen mit hinein gerissen und die Frage das Buch hindurch bleibt, ob und wie sich Tanya durch das Labyrinth der Bandenkreise und Männerbünde hindurch winden kann. Gut geschrieben dazu.

Neu folgt auf Platz 6 „Treibeis“ von John Farrow, herausgebracht vom Verlag Knaur. Wir haben diesen neuen, den zweiten Krimi um den Kommissar Cinq-Mars noch nicht gelesen, haben aber von der Eiseskälte des ersten kanadischen Romans noch heute die Gänsehaut. D.B. Blettenberg hat mit „Murnaus Vermächtnis“ aus dem DuMont Buchverlag nun ein wirklich ungewöhnliches Krimisujet gewählt, bei dem man sich fragt, weshalb ein solches Thema nicht schon zuvor bearbeitet wurde. Es geht um Wahrheit und Fiktion, es geht um Wirklichkeit und Unwirklichkeit, die auch in den Filmen des Friedrich Wilhelm Murnau kaum auseinanderzuhalten sind, Murnau, nach dem in Wiesbaden das Filmhaus benannt ist und dessen Namen auch eine Filmstiftung ziert. Hier versucht der Ex-Legionär Victor Voss, einen verschollenen Murnau-Film aufzutreiben. Dabei läßt er sich mit gefährlichen Burschen ein und hat nicht nur alle Hände voll zu tun, aus diesem Tsunami, den er entfach, wieder herauszufinden. Spannend ist es auch, aber so nebenbei lernt man noch Filmgeschichte und viele biographischen Details über den alten Filmkünstler Murnau.

Wie angenehm, dass Don Winslow wieder dabei ist. „Pacific Paradise“ aus dem Suhrkamp Verlag, die ja eine neue sich gut machende Krimireihe aufgelegt haben. irgendwie denken wir, den Titel kennen wir schon, was dazu verführt, zu glauben, das Buch haben wir schon gelesen. Nein, Pacific Private hieß das erste, dem nun dieses, ja, ja, ebenfalls vom Pacific Beach, Kalifornien folgt. Aber man muß nicht ängstlich auf langweilige Surfer warten. Die kommen nicht, die Szene entwickelt sich ganz anders als erwartet und das Wasser ist überall. Fast verschlingt es auch den Ermittler. Was gewagt ist, ist der Vergleich mit Philip Marlowe. Nein, man muß nicht gleich Chandler bemühen, so etwas sieht sogar zu bemüht aus. Das Buch liest sich flüssig, aber was bleibt? Ein dritter .P.P.? Pacific Politics? Wir mögen ja nicht, daß die Amerikaner die Krimiszene der Bestenliste so bevölkern, wie gehabt und freuen uns deshalb, dass auf Platz 8 ein J. Giancarlo de Cataldo mit „Romanzo Criminale“ steht, dessen Buchangaben in der Bestenliste auch gut klingt. Denn die reale Geschichte der 70 und 80er Jahre in Italien, ist eh ein Krimi. Heute dagegen ja eher eine Schmierenkomödie. Dieses Buch ist im Folio Verlag herausgekommen, den wir sofort um ein Rezensionsexemplar bitten werden. Demnächst also mehr. Versprochen.

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Lfd.

Nr.

Rang

Vor-monat

Titel

1

1

(4)

Richard Price: Cash

Aus dem Amerikanischen von Miriam Mandelkow

S. Fischer, geb., 524 S., 19,95

Lower East Side, Manhattan: Mit Ultra-Dokumentar-Seelen-Kamera entflicht Price alle Handlungs- und Beziehungsimplikationen eines irgendwie systemischen Totschlags, scharf, unscharf und aus der Totale. Keiner ist böse. Alles geschieht. Niemand versteht es. Tod als Anlass, weiter zu machen wie bisher.

2

2

(1)

Pete Dexter: God’s Pocket

Aus dem Englischen von Jürgen Bürger und Kathrin Bielfeldt

Liebeskind, geb., 368 S., 22,00 €

God’s Pocket, Philadelphia: In seinem Debütroman von 1983 enthält sich Pete Dexter jeder Erklärung. Gewalt geschieht, etwas geschieht immer. Antimetaphysisch, grotesk erzählt er aus dem Pandämonium einer amerikanischen Vorstadt von Bauarbeitern, Fleischschmugglern, Kleingangstern, Träumern. Furios.

3

3

(-)

Derek Nikitas: Scheiterhaufen

Aus dem Amerikanischen von Jens Seeling

Seeling Verlag, PB, 368 S., 15,00 €

Monroe County, New York: Lucias Leben wird nicht von der Lichtgöttin bestimmt, nach der sie genannt wurde. Als die Sechzehnjährige erlebt, wie ihr Vater erschossen wird, ist das erst der Anfang einer wilden, kriegerischen Jagd. Gewissheit, Sicherheit, Familie – alles kaputt. Mitreißendes Debüt, tolle Entdeckung.

4

4

(2)

Dominique Manotti: Letzte Schicht

Aus dem Französischen von Andrea Stephani

ariadne im Argumentverlag, TB, 256 S., 12,90 €

Pondange, Lothringen/Warschau/Paris: Ein Betriebsunfall, eine Fabrikbesetzung. Arbeiter geraten an Material, das die Fusion zweier Wirtschaftsgiganten beeinflussen und die Regierung stürzen könnte. Manotti ist eine Klasse für sich: lebensnah, realistisch, vertrackt. Der Krieg der Konzerne in den kleinen Städten. Superb.

5

5

(9)

Jiří­ Kratochvil: Das Versprechen des Architekten

Aus dem Tschechischen von Julia Hansen-Löve u. Christa Rothmeier

Braumüller, geb., 386 S., 23,95 €

Brünn: „Kein Zuckerschlecken“, die stalinistischen Fünfzigerjahre. Architekt Modráček rächt den Polizeimord an seiner Schwester durch den Bau einer Insel der Glückseligen. Wundersam-groteskes, surrealistisches Geschichtsstück über Rache und Fortschritt. Zauberhaft, bös, verspielt. Eine Entdeckung.

6

6

(-)

John Farrow: Treibeis

Aus dem Englischen von Friederike Levin

Knaur, TB, 572 S., 8,95 €

Montreal/Lake of Two Mountains: In Farrows zweitem Thriller scheint der Leser alles, der geniale Detective Cinq-Mars nichts zu wissen. Elegant konstruierte, mies übersetzte, ultraspannende Story um eine Indianerin, die Grenzen überquert, um Aids-Kranken zu helfen. Ihr Pech: Hinter den Guten stecken die Bösen.

7

7

(-)

D.B. Blettenberg: Murnaus Vermächtnis

DuMont Buchverlag, geb., 576 S., 19,95 €

Ghana/Berlin/Brandenburg: In Friedrich Wilhelm Murnaus Filmen sind „Wirklichkeit und Unwirklichkeit“ kaum geschieden. Ex-Legionär Victor Voss, Fremdenführer in Accra, sucht mit dem dubiosen Albin Grau nach einem verschollenen Murnau-Film. Und gerät in den Strudel: Horror, Tabubruch, Ich-Verlust. Filmbuch, Krimi, Nachtmahr, Sperrgut.

8

7

(-)

Don Winslow: Pacific Paradise

Aus dem Amerikanischen von Conny Lösch

Suhrkamp, TB, 400 S., 9,95 €

San Diego: Stabilität gibt nur das Surfbrett im Pazifik. Alles andere wankt: Boone Daniels’ Freundschaften, der Erdboden, die Moral. Dabei ist ruhiger August. Nichts passt. Der Täter nicht zum Mord an einer Surflegende, der Ehebruch der Klassefrau nicht zum Geologen. Munter, clever, bös – trotz Sonnenschein.

9

8

(-)

Giancarlo de Cataldo: Romanzo Criminale

Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl

FolioVerlag, geb., 576 S., 24,90 €

Rom: Freddo, Dandi und der Libanese, gerissene Jungs von der Straße, übernehmen den Drogenmarkt und die Macht. De Cataldo: Richter, gelehriger Schüler des Neorealismo, Dokumentar. Sein Sittenbild der siebziger und achtziger Jahre viviseziert Manieren und Bräuche einer Bande von Mächtigen auf Zeit. Kolossal.

10

9

(10)

John Hart: Das letzte Kind

Aus dem Englischen von Rainer Schmidt

C.Bertelsmann, geb., 448 S., 19,95 €

Raven County, North Carolina: Vor einem Jahr wurde Alyssa entführt. Johnny (13) stöbert auf der Suche nach seiner Zwillingsschwester Kinderschänder, Serienmörder, Vergewaltiger und blöde Cops auf. Wendungsreich, spannend, jede Menge Horror, Höhlen und Übles. Die Guten kommen durch. Eben Hart.

Die „Bestenliste“ wird im Hörfunk immer am letzten Wochenende des Monats: Samstag, 31. Juli 2010 gegen 8.40 Uhr live; Sonntag, 1. August, 15.05 – 16.00 Uhr in der „Literaturzeit“ des NordwestRadio vorgestellt sowie in der Literarischen Welt am 31. Juli. 2010. Das Beste vom Besten: Immerhin erscheinen übers Jahr verteilt über 800 Kriminalromane auf Deutsch. An jedem letzten Samstag im Monat geben Literaturkritiker und Krimispezialisten aus Deutschland, Österreich und der Schweiz die Kriminalromane bekannt, die ihnen am besten gefallen haben. Sie halten nach dem literarisch interessanten, thematisch ausgefallenen, besonderen Kriminalroman Ausschau. Die besten Zehn werden mit Bibliographie und Kurzbeschreibung hier veröffentlicht.

Die Jury hat sich gerade verändert und setzt sich zusammen aus:

Tobias Gohlis, Hamburg, Kolumnist DIE ZEIT, Moderator und Jury-Sprecher der KrimiWelt Volker
Albers, Hamburg, Hamburger Abendblatt, Herausgeber „Schwarze Hefte“
Andreas Ammer, Berg, „Druckfrisch“, Dlf, BR
Sven Boedecker, Zürich, Sonntagszeitung
Fritz Göttler, München, Süddeutsche Zeitung
Michaela Grom, Heidelberg, SWR
Lore Kleinert, Bremen, Radio Bremen
Thomas Klingenmaier, Stuttgart, Stuttgarter Zeitung
Ekkehard Knörer, Berlin, Perlentaucher, Crime Corner
Kolja Mensing, Berlin, Tagesspiegel
Ulrich Noller, Köln, Deutsche Welle, WDR
Jan Christian Schmidt, Berlin, Kaliber 38
Margarete v. Schwarzkopf, Köln, NDR
Ingeborg Sperl, Wien, Der Standard
Sylvia Staude, Frankfurt/M., Frankfurter Rundschau

Jochen Vogt, Literaturwissenschaftler
Hendrik Werner, Bremen, DIE WELT
Thomas Wörtche, Berlin, Kolumnist Freitag, Plärrer

In der Jury der KrimiWelt-Bestenliste hat es einige Veränderungen gegeben: Kathrin Fischer und Jochen Schmidt sind ausgeschieden. Neu hinzugekommen ist Jochen Vogt, einer der wenigen akademischen Literaturwissenschaftler, der den Kriminalroman schon vor Jahrzehnten erforscht hat.

Alle weiteren plazierten Krimis entnehmen Sie bitte den Krimi-Besprechungen in den vormonatlichen Artikeln, die Sie unter Kultur. Bücher oder unter dem Autorennamen im Archiv finden. Dreimal darf ein Buch einen Platz bekommen, dann scheidet es aus und hat nur noch die Chance, in der Jahresbestenliste wieder aufzutauchen, die diesmal Ende Januar herauskommt.

Unter www.arte.tv/krimiwelt finden Sie die Bestenliste mit Kurzrezensionen der Juroren, Kommentaren des Jurysprechers („What’s New?“) und weiteren Informationen zu Büchern und Autoren („Krimiautoren A-Z“).

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