Stahlblauer Himmel, frische Seeluft, ruhiger Wellengang. Weit schweift der Blick übers Meer, ungehindert bis zum Horizont: Ein Urlaub auf Spiekeroog beginnt schon mit der Überfahrt, die einen auf den ganz eigenen Rhythmus der Insel einstimmt. Wer seinen Koffer am Gepäckcontainer im Hafen von Neuharlingersiel abgibt, lässt den Alltag hinter sich. 45 Minuten dauert der Transfer auf dem Schiff. Sechs Kilometer weit geht es an vielen kleinen Sandbänken vorbei direkt nach Spiekeroog. Angekommen, empfangen einen nur der Wind und die Natur. Hier gibt es keine Hektik und keinen Verkehrslärm. Alles ist bequem zu Fuß erreichbar. 800 Insulaner leben ständig auf der „grünen Insel“, die meisten von ihnen vom Tourismus. Bettenburgen und Bausünden sucht man vergeblich. In der Hochsaison ist für circa 3.500 Urlauber Platz. 90.000 kommen pro Jahr nach Spiekeroog, das insgesamt 600.000 Übernachtungen verzeichnet. Durchschnittlich bleiben sie 6,4 Tage. Geschützt liegt der einzige Ort im Westen des Eilands, seit 400 Jahren hat er dort seinen Platz. Große, alte Linden und Kastanienbäume strecken ihre breiten Äste über die schmalen Straßen aus, an denen die rosenumrankten Häuschen der Walfänger und Heringsfischer stehen. Liebevoll sind ihre Türen und Fensterläden in Dunkelgrün und Weiß gestrichen. Wer durch das Dorf schlendert, macht eine Zeitreise in die Vergangenheit. Denn auf einer der beiden Hauptstraßen Spiekeroogs, dem Süderloog, steht mit der Hausnummer 4 das „Alte Inselhaus“ aus dem Jahre 1705. Es ist sogar mit einem Schwimmdach ausgestattet. Schwimmdächer hatten damals die Funktion von Rettungsflößen. Bei Sturmfluten konnten sie vom unteren Teil des Gebäudes ausgeklinkt werden und trieben dann mitsamt den Bewohnern auf dem Wasser. Herzstück ist jedoch die alte Inselkirche aus Backstein. Innen befinden sich eine Renaissancekanzel, sieben Apostelbilder sowie eine Madonna, die von einem Schiff der spanischen Armada, das 1588 vor Spiekeroog gestrandet ist, stammen soll. Wer mehr über die Geschichte wissen möchte, geht ins Inselmuseum. Dort gibt es ausgestopfte Basstölpel, Muscheln, Bernsteinklumpen und Gegenstände aus Spiekerooger Haushalten wie zum Beispiel bemalte Hundepaare aus Keramik. Der Noorderloog, die zweite Hauptstraße, führt zur „Neuen evangelischen Kirche“, die 1960 erbaut wurde. „Johannes Rau und seine Frau Christina waren oft auf Spiekeroog und sehr beliebt“, erzählt Gästeführerin Anja Sander. „Schon Gustav Heinemann besaß hier ein Häuschen, das später seine Enkelin Christina erbte. Johannes Rau kam also durch seine Frau hierher.“ Beide haben am 22. August 1982 auf der Insel geheiratet.
Ferien auf Spiekeroog haben eine lange Tradition. 1846 wird es als Seebad erstmals erwähnt, 1969 als Nordseeheilbad anerkannt. Kein Wunder, denn die heilsame Luft und das wohltuende Meeresklima versprechen eine umfangreiche Heilwirkung: „Der Blutdruck sinkt, die Lunge wird frei, Hautbeschwerden und Allergien verbessern sich“, sagt Patrick Kösters von der Nordseebad Spiekeroog GmbH. „Ortsgebundene Heilmittel wie zum Beispiel Algen und Schlick kommen in verschiedenen Thalasso-Behandlungen zum Einsatz und schenken so neue Energie und Entspannung. Außerdem tragen die idyllische Natur Spiekeroogs mit ihren weiten Salzwiesen, kleinen Wäldchen und dem 15 Kilometer langen Sandstrand zu einem erholsamen Aufenthalt bei.“ In der Tat stehen über 500 strahlend weiße Strandkörbe direkt am Meer. Jeden Vormittag ziehen kleine Karawanen vom alten Inseldorf in Richtung Wasser, Eltern, die den Nachwuchs in Bollerwagen durch die Dünen schieben, begleitet von Fußgängern mit Badetüchern und Schwimmreifen. „Auch Familie Rau hielt sich oft am Strand auf oder ging mit ihrem Hund „Scooter“ spazieren“, weiß Sander. Allerdings musste der Riesenschnauzermischling angeleint bleiben. Spiekeroog gehört zum 1986 gegründeten Nationalpark Niedersächsisches Wattenmeer und ist ein international bedeutsames Vogelbrutgebiet. Nur am eigens ausgewiesenen Hundestrand durfte er frei laufen. Nach Meinung seines Herrchens war der Vierbeiner „als Hund eine Katastrophe, aber als Mensch große Klasse.“
Wer auf dem „Hellerpad“ Richtung Windrad geht, gelangt zur Hermann Lietz-Schule. 100 Schülern sowie rund 20 Lehrer und Mitarbeiter bilden hier einen eigenen Mikrokosmos. Alfred Andreesen, Nachfolger des 1919 verstorbenen Hermann Lietz (Motto: „Mit Kopf, Herz und Hand!“), hat sie 1928 als Landerziehungsheim gegründet. „In der Tradition der klassischen Reformpädagogik sind wir den Idealen ganzheitlicher Erziehung verpflichtet“, erzählt Schulleiter Florian Fock. „Vom ersten Tag an gehört ein neuer Schüler zu seiner Heimfamilie. Ihren Kern bildet eine Lehrerin oder ein Lehrer, meist samt Lebenspartner und eigenen Kindern. Die weiteren „Familienangehörigen“ sind Heimbürger aller Altersgruppe. So fühlt sich jeder Einzelne geborgen, erfährt soziales Miteinander und kann sich jederzeit Orientierung bei schulischen und privaten Fragen holen.“ Der berühmte Raketeningenieur Wernher von Braun hat hier 1930 sein Abitur gemacht. Kuratoriumsvorsitzende der Schule ist Christina Rau. In eigenen „Gilden“ befassen sich die Schüler mit Energietechnik, Gartenbau, Tierhaltung und dem Nationalpark-Haus „Wittbülten“. Es stellt die faszinierende Natur der Insel in einer imposanten Ausstellung vor. Highlight sind ein 15 Meter langes Pottwalskelett und eine große Aquarienanlage, die nicht nur Einblicke in die Unterwasserwelt gewährt, sondern an der kleine und große Besucher die Gelegenheit haben, Tiere in die Hand zu nehmen und zu streicheln. „Charakterbildung bedeutet für die Schüler der Hermann Lietz-Schule Fähigkeiten, die in ihnen geweckt werden, zum Wohl der Gemeinschaft einzubringen“, so Christina Rau in einer Informationsbroschüre des Internats. „Das ist das Wichtigste, was Schule jungen Menschen für ihren Lebensweg mitgeben kann.“
Zurück im Insel-Café erwartet uns Bürgermeister Bernd Fiegenheim zu einer echt friesischen Teezeremonie. Pro Tasse legt man ein Zuckerstück, „Kluntje“ genannt, hinein und gießt den Tee darüber. „Das Knistern und Knacken klingt wie Musik in ostfriesischen Ohren“, lacht Fiegenheim. „Es ist ein Zeichen dafür, dass der Tee die richtige Temperatur hat.“ Danach wird ein Hauch Sahne ringförmig mit dem Löffel sanft auf den Tee gelegt. „Der Tee darf auf keinen Fall umgerührt werden“, mahnt der Bürgermeister und Sozialpädagoge. Zuerst genießt man das Sahnewölkchen, danach den herben Geschmack und zuletzt den stark gesüßten Teerest am Grund der Tasse. Später stellt man den Löffel hinein, um dem Gastgeber zu signalisieren, dass man keinen Tee mehr möchte. Weitere wichtige Regel: „Dreimal ist Ostfriesenrecht!“ Es ist unhöflich, einem Gast keine drei Tassen Tee anzubieten. Und es ist unhöflich, als Gast keine drei Tassen Tee zu trinken.
Wer mehr über Johannes Rau erfahren möchte, geht jedoch am besten in die „Dünenklause“. Über 25 Jahre war sie sein Stammlokal. Es befindet sich nur einen Steinwurf von seinem Ferienhaus entfernt, in dem er auch Gerhard Schröder, Manfred Stolpe und Wolfgang Clement empfangen hat. Gern gesehen war er bei Wirt Jochen Boosmann: „Er hörte jedem zu und ließ sich auch fotografieren.“ Nicht umsonst zieren viele private Fotos der Familie Rau mit ihren drei Kindern Anna Christina, Laura Helene und Philipp Immanuel die Wände. Seine Art, den protestantisch-christlichen Glauben öffentlich zu leben, trug Rau die Bezeichnung „Bruder Johannes“ ein. Stets war er auf gesellschaftlichen Ausgleich bedacht und galt als moralische Instanz. Zentrale Motive seiner Politik war auch sein Werben für soziale Gerechtigkeit („Versöhnen statt spalten“). Von 1965 bis 1999 gehörte Johannes Rau der Landessynode der Evangelischen Kirche im Rheinland an und war stellvertretendes Mitglied der Kirchenleitung der Evangelischen Kirche im Rheinland. Dem Deutschen Evangelischen Kirchentag war Rau eng verbunden. Von 1966 bis 1974 war er Mitglied des Präsidiums und nahm auch danach regelmäßig am Kirchentag in offizieller Funktion und als Privatmann teil. Auf Spiekeroog trug er oft eine dunkle Mütze, die „Elbsegler“ genannt wird. „Urlaub auf Spiekeroog ist für mich wie nach Hause kommen. Nach all den Jahren bin ich mit vielen Insulanern befreundet und duze mich mit den meisten“, pflegte Rau zu sagen. Ausgedehnte Streifzüge durch die Natur, gutes Essen und ein paar Runden Skat mit Freunden, das machte für ihn einen perfekten Urlaub aus. „Sicher gibt es auch andere schöne Plätze auf der Welt, aber Spiekeroog ist in seiner Art absolut einmalig. Ich habe hier Ruhe und viele Freunde gefunden“, so Rau. Aus Sicht der Insulaner war er fast schon einer von ihnen. 2000 machten sie ihn sogar zum Ehrenbürger von Spiekeroog. Nach seiner Operation an der Bauchschlagader kam er zur Nachkur hierher und führte sogar zwei Monate lang die Regierungsgeschäfte von der kleinen Insel aus. Denn ein Aufenthalt auf Spiekeroog wirkt nicht nur heilend, sondern ist auch der perfekte Ausgleich zum turbulenten Alltagsleben in der Stadt.
Mehr Infos auf der Website: www.spiekeroog.de