Zu Beginn erscheint Felix Römer als Madame Pernelle in schwarzer Robe mit weißer Halskrause und beschimpft das Publikum wegen seiner Sittenlosigkeit und Verlogenheit. Diese Strafpredigt, in Molières Stück an die Familie gerichtet, ist höchst eindrucksvoll. Felix Römer plustert sich gewaltig auf als wütende Moralpredigerin, gestaltet den Monolog komödiantisch und verfällt erst am Schluss in die Verzerrungen und Veralberungen, die im weiteren Verlauf den Darstellungsstil der AkteurInnen charakterisieren.
Madame Pernelle hat zwar keinen Durchblick und ist alles andere als eine integre Persönlichkeit, aus ihr spricht jedoch zunächst wohl auch der Regisseur. Michael Thalheimer nämlich hat Molières „Tartuffe“ eigenwillig neu interpretiert. In Thalheimers Inszenierung gibt es keinen Betrüger, der einen Gutgläubigen ausbeutet, während dessen Familie vergeblich die Katastrophe zu verhindern versucht. Hier sorgen hemmungslos korrupte Menschen, zu denen sich auch die ZuschauerInnen zählen dürfen, mit ihrer haarsträubenden Dummheit für ihren eigenen Untergang, für den sie dann einen harmlosen Zeitgenossen zum Sündenbock machen.
So ganz harmlos ist Thalheimers Tartuffe allerdings auch wieder nicht, obwohl er zunächst wie ein bedauernswerter Besessener erscheint. Bei seinem ersten Auftritt schreit Lars Eidinger monoton einen kaum verständlichen Text, in dem es um Flüche und Buße geht und verbeugt sich dabei tief in gleichmäßigem Rhythmus. Dabei fallen die Locken seiner Jesusperücke über sein Gesicht. Sein nackter Oberkörper ist von Schriftzeichen bedeckt, als sei er aus Cornelia Funkes „Tintenherz“ herausgelesen worden.
Das Vermögen seines Gönners bekommt dieser Tartuffe nachgeworfen, ohne dass er sich sonderlich darum bemühen muss, und die Damen lassen sich seine Übergriffe gern gefallen, auch wenn sie scheinheilig Empörung heucheln. In die Falle locken lässt dieser Tartuffe sich nicht, denn Orgon, der versteckt mit anhören soll, wie sein Günstling seine Gemahlin bedrängt, bleibt Tartuffes Blicken nicht verborgen. Zu dem Zeitpunkt hat sich die Bühne so weit gedreht, dass der schwarze Sessel hoch oben an der linken Wand hängt, und daran klammert sich Ingo Hülsmann als Orgon fest. Lars Eidinger schaut mehrmals vielsagend nach oben, und darf dann die einzigen in natürlichem Ton gesprochenen Sätze in dieser Inszenierung äußern, bevor er lautstark, und zu Recht, die Dummheit seines Wohltäters konstatiert.
Was längst verstorbene Dichter der Mit- und Nachwelt sagen wollten, lässt sich nicht immer mit Sicherheit feststellen, und manche Aussagen müssen vom Staub der Jahrhunderte befreit und aktualisiert werden, um verständlich zu sein. Unzweifelhaft war Molière aber ein Schauspieler, der als Dramatiker wunderbare Rollen für KomödiantInnen geschaffen hat, und sein Tartuffe ist ein Zuckerstückchen, mit dem jeder, auch nur halbwegs begabte, Schauspieler das Publikum begeistern kann. Lars Eidinger, Star der Schaubühne, hat diese Rolle bekommen, die vom Regisseur jedoch in eine unspielbare Nebenfigur verwandelt wurde.
Ähnlich rigoros ist Thalheimer mit der Rolle der Dorine verfahren, auch sie eigentlich eine Bühnenfigur, für die der Applaus vorprogrammiert ist. Wie schon Kathleen Morgeneyer als Jungfrau von Orleans in Thalheimers Inszenierung am Deutschen Theater, muss auch Judith Engel als Dorine, unbewegt auf einem Fleck verharrend, ihren Text herunterleiern. Trotzdem gelingt es Judith Engel, ein paar Pointen zu setzen und damit das Publikum zum Lachen zu bringen.
Während Tartuffe kaum etwas und Dorine nur wenig zu sagen hat, sind in der arg zusammengestrichenen Textfassung, nach der Übersetzung von Wolfgang Wiens, längere Passagen für Orgon übrig geblieben. Ingo Hülsmann, zunächst auch mit Jesusperücke, räkelt sich im Sessel, entlarvt Orgon als Sadisten, der Tartuffe benutzt, um seine Familie zu tyrannisieren und rast mit gewandter Zunge durch seinen Monolog, Reime betonend und unreine Reime besonders hervorhebend. Dabei verfällt er schließlich in den Darstellungsstil, der aus den Inszenierungen von Herbert Fritsch bekannt ist.
In eben diesem Stil gestalten auch Luise Wolfram und Tilman Strauß das nervtötend weinende Liebespaar Mariane und Valère sowie Franz Hartwig in kurzen Hosen den Kekskrümel spuckenden Sohn Damis und, kurz vor Schluss, Urs Jucker den Gerichtsvollzieher Monsieur Loyal, der, mit schweizerischen Einsprengseln, den Gipfel verzerrten Klamauks erstürmt.
Alle AkteurInnen haben weiß geschminkte Gesichter, nur um die Augen herum ist die Farbe ausgespart, sodass alle leicht gruselig rotäugig aussehen. Im Kostüm erscheint nur Madame Pernelle als Vertreterin der alten, aber nicht besseren, Zeit, die anderen SchauspielerInnen sind von Nehle Balkhausen mit moderner, dezenter Garderobe ausgestattet worden.
Regine Zimmermann legt als Elmire ihr elegantes Samtkleid ab, um Tartuffe ihre schwarze Unterwäsche vorzuführen und wirkt, verständlicherweise, ein bisschen verloren. Auch Kay Bartholomäus Schulze, der in vielen Rollen an der Schaubühne großartige Leistungen erbracht hat, klettert als Cléante eher unentschlossen auf Orgons Sessel herum und fällt eigentlich erst auf, als er die Souffleuse zur Textansage auffordert.
Gesprochen wird ausschließlich frontal zum Publikum, und fast alle Dialoge sind in Monologe umfunktioniert. Trotzdem findet der, an keine erkennbare Person gerichtete, Befehl: „Halt die Fresse!“ häufig Verwendung.
Molières abschließende Huldigung an den König, auf dessen Befehl Tartuffe als Betrüger verhaftet wird, die ohnehin pflichtschuldig angeklebt erscheint, fehlt in Thalheimers Inszenierung. Stattdessen kommt Judith Engel noch einmal ins Leiern und trägt so, beginnend mit: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen“ einen klagenden Psalm vor.
Ein religiöses Erlebnis ist dieser Theaterabend auf jeden Fall, denn mehr als deutlich ist in dieser Inszenierung die Hand des allmächtigen Regisseurs zu spüren, des großen Unsichtbaren, der die Schritte der Sichtbaren lenkt und aus dessen geheimnisvollem Wirken sich Weisheiten entschlüsseln lassen – – oder auch nicht.
Die Vorstellung dauert knapp zwei Stunden, in denen ich Zeit genug hatte, mich ausgiebig zu langweilen. Beim Schlussapplaus wurde links von mir begeistert und rechts von mir überhaupt nicht geklatscht, dafür aber mit dem Kopf geschüttelt. Neben Bravo- waren auch Buh-Rufe zu hören. Lars Eidinger bekam nur schwachen Beifall. Wem aber ganz speziell der lang anhaltende Applaus galt, war nicht erkennbar. Vielleicht handelte es sich um Ovationen für Herbert Fritsch.
Michael Thalheimer, der gerade als Hausregisseur vom Deutschen Theater zur Schaubühne übergewechselt ist, hat dort mit dem „Tartuffe“ seine erste Inszenierung in dieser Funktion vorgestellt. Ruhm erworben hat er sich vor allem mit seinen Inszenierungen antiker Dramen. Zum Theatertreffen 2013 war Michael Thalheimers Frankfurter „Medea“- Inszenierung mit der großartigen Constanze Becker eingeladen. Dass er auch Komödie kann, hat Thalheimer mit seiner Inszenierung von „Was ihr wollt“ bewiesen, die 2008 im Zelt vor dem Deutschen Theater zu erleben war. Wenn nun der „Tartuffe“ Anlass zu widerstreitenden Meinungen gibt, kann das die Erwartungen auf die weiteren Arbeiten nur steigern.
Zu hoffen ist allerdings, dass Michael Thalheimer dem glücklicherweise gerade im Schwinden begriffenen gnadenlosen Regietheater nicht zu neuer Blüte zu verhelfen gedenkt.
„Tartuffe“ von Molière hatte am 20.12. Premiere in der Schaubühne. Weitere Vorstellungen: 25.12. 2013 und 09. und 11.01. 2014.