Die Bezeichnung für das Unternehmen hätte, um Missverständnisse zu vermeiden, etwas bescheidener ausfallen können. Aber wenn die Idee sich nicht weltbewegend angehört hätte, wäre es wohl erheblich viel schwerer gewesen, Menschen dafür zu begeistern, Sponsoren zu finden und Spenden zu bekommen. Außerdem wollte Christoph Schlingensief ja nicht einfach irgendein Dorf in Afrika bauen. Er wollte die Welt bewegen mit seinem Projekt, und vor Missverständnissen hat der Unruhestifter sich niemals gefürchtet.
Am 08. Februar 2010 fand die Grundsteinlegung für das Operndorf statt. Im Anschluss kreierte Schlingensief mit afrikanischen und europäischen KünstlerInnen das Multimedia-Stück „Via Intolleranza II“, das am 15.Mai in Brüssel uraufgeführt wurde und danach in Hamburg und München zu erleben war.
Christoph Schlingensief ist am 21. August 2010 in Berlin an den Folgen seiner Lungenkrebserkrankung gestorben. In seiner Produktion, die an drei Abenden im Haus der Berliner Festspiele vom begeisterten Publikum gefeiert wurde, ist Schlingensief lebendig wie eh und je. Nicht nur, weil er in Filmaufnahmen erscheint oder weil Stefan Kolosko Schlingensiefs Rolle so offensichtlich in Vertretung übernommen hat, als erwarte er jederzeit, seinen Platz wieder zu räumen für den nur vorübergehend Abwesenden, sondern weil dieses Werk so voller Leben und Spontaneität steckt, dass der Gedanke an endgültigen Abschied und Stillstand nicht aufkommen will.
Mit dem Titel des Stücks bezieht Schlingensief sich auf die Oper „Intolleranza 1960“ , in der Luigi Nono seinen Protest gegen Rassismus, Intoleranz und staatliche Gewalt zum Ausdruck gebracht hat. Stefan Kolosko spielt ein paar Takte aus der Oper auf seinem Handy ab und äußert Bedauern darüber, dass die Rechte auf die Musik nicht zu haben waren und deshalb für „Via Intolleranza II“ etwas Eigenes komponiert werden musste.
Das Fönix-Orchester unter Leitung von Arno Waschk brilliert mit dissonanten Klängen und afrikanischer Folklore und ist Teil des Chaos, das unentwegt die Bühne beherrscht und von Stefan Kolosko kommentiert aber nicht eingedämmt wird.
Zu Beginn berichtet Brigitte Cuvelier als Theaterbeauftragte des Goethe-Instituts Brüssel über Pech und Pannen bei der Entstehung des Stücks, an denen die Aschewolke aus Island ebenso beteiligt war wie die Krankheit von Christoph Schlingensief.
Selbstverständlich thematisiert Schlingensief seine Krankheit auch in dieser Produktion, spricht, in einer Videoeinspielung, auch über den Tod, den er zu erwarten scheint, immer noch zornig aufbegehrend, sich aber auch einlassend auf einen radikalen Veränderungsprozess. Christoph Schlingensief hat weitergemacht so lange es ging, ist nach Afrika geflogen, obwohl die Ärzte das für unverantwortlich erklärt hatten und hat, immer wieder unterbrochen durch Krankenhausaufenthalte und Chemotherapie, mit ungeheurem Einsatz an der Verwirklichung seines Lebenstraums gearbeitet.
Dabei hat Schlingensief aber auch seine Motive in Frage gestellt, sein eigenes „Gutmenschentum“ bei diesem Hilfsprojekt für Afrika kritisiert und als Erbe des Kolonialismus entlarvt.
In einer kleinen Szene gibt der europäische Tänzer Jean Chaize dem Afrikaner Ahmed Soura eine Tanzlektion. Jean Chaize macht sich wichtig, beruft sich auf seine Erfahrung, tanzt vor, und der junge Tänzer Ahmed Soura folgt gelehrig den Schritten des Älteren. Dann aber fragt Jean Chaize, wie Ahmed Soura Hunger darstellen würde, so, als sei das etwas ungeheuer Schwieriges. Soura nickt verstehend und verwandelt seinen muskulösen Körper sofort in ein Gerippe mit qualvoll aufgerissenem Mund.
Europäischer Rassismus und Kolonialismus werden in dieser Inszenierung immer wieder angeprangert. Dazu sind u.a. Bilder von den „Völkerschauen“ in Hagenbecks Tierpark zu sehen.
Neu ist das alles nicht, soll wohl auch keine erschütternde Wirkung haben. Es geht um alles, was Christoph Schlingensief durch den Kopf geht und sofort in Worte gefasst wird und in Bilder, Filmsequenzen und gespielte Szenen umgesetzt wird. Es geht um einen Lernprozess, der in Europa stattfinden muss. Europa, so fordert Schlingensief, soll damit aufhören, die Menschen in Afrika zu belehren, soll einfach Geld schicken, damit die AfrikanerInnen ihre eigenen Ideen verwirklichen können.
Geld wird auf jeden Fall gebraucht für das Operndorf in Burkina Faso, und so ist die Vorstellung auch eine Spendengala mit großartigen Gesangseinlagen von Mamounata „Kandy“ Guira und ihrem Vater.
Aino Laberenz hat das Ensemble mit einfacher bis hoch eleganter Garderobe in hervorragend auf einander abgestimmten Farben ausgestattet. Die Bühne ist von Thekla von Mühlheim und Christian Schlechter vollgestellt mit Tischen, Stühlen und allem möglichen Arbeitsgerät. Das alles wird immer wieder beiseite geräumt, um Platz für Tanz und Spielszenen zu schaffen. Stefan Kolosko zieht den Zwischenvorhang, um den Blick auf neue Szenarien zu eröffnen und, ohne Christoph Schlingensief zu kopieren, bringt er eindrucksvoll dessen Ungeduld und Getriebensein von immer neuen Ideen zum Ausdruck.
Das Stück ist eine Produktion des Festspielhauses Afrika gGmbH in Koproduktion mit Kampnagel Hamburg, dem Kunstenfestivaldesarts Brüssel und der Bayerischen Staatsoper München. In Kooperation mit dem Burgtheater Wien, Impulstanz und den Wiener Festwochen.
Der 3-sat-Preis wurde in diesem Jahr, ganz ohne öffentlich ausgetragenen Preiskampf, an Christoph Schlingensief vergeben. Während diese Entscheidung kaum Widersprüche hervorrief, gab es auch bei diesem Theatertreffen wieder hitzige Diskussionen über die Auswahl der Jury.
Über Geschmack lässt sich angeblich nicht streiten, obwohl der Vorwurf des schlechten Geschmacks doch immer wieder gern erhoben wird. Bei mir haben die beiden Inszenierungen von Herbert Fritsch einen unangenehmen Nachgeschmack hinterlassen, ganz unabhängig von der Frage, wie die Hauptmann- und Ibsen-Interpretationen zu beurteilen sind.
Tatsache ist, dass es, sowohl in „Der Biberpelz“ als auch in „Nora oder ein Puppenhaus“, wunderbare Rollen gibt, in denen SchauspielerInnen aus Schwerin und Oberhausen vor internationalem Publikum, von dem ein beachtlicher Teil vom Fach ist, beim Theatertreffen hätten glänzen können – oder auch nicht. Von diesen Rollen ist in beiden Inszenierungen kaum etwas übrig geblieben. Die Mitwirkenden präsentierten sich als Gruppe und stellten mehr oder weniger perfekte technische Fähigkeiten zur Schau.
Aufgefallen, positiv wie negativ, jedenfalls keineswegs unbemerkt geblieben, ist durch diese Inszenierungen lediglich Herbert Fritsch, und der hat seine Arbeit nicht mit einer eigenen Truppe gemacht, die sich den Erfolg mit dem Regisseur teilen könnte und nun vielleicht Chancen hätte, als schräges Team Kult zu werden. Die SchauspielerInnen fahren zurück nach Schwerin und Oberhausen und sind, nach getaner Arbeit, in Berlin ebenso unbekannt wie sie es vorher waren. Die Provinz als Lieferantin von SchauspielerInnenmaterial, das zum Ruhme eines Einzelnen verheizt wird – – – – ??
Zehn Inszenierungen werden jeweils zum Theatertreffen eingeladen, und wenn von Inszenierung gesprochen wird, ist immer noch zuerst, und manchmal ausschließlich ,die Rede vom Regisseur – inzwischen darf es auch mal eine Regisseurin sein – , der oder die das alles gemacht hat. Dabei ist gerade das tt, in diesem Jahr wie auch in der Vergangenheit, ein Festival der SchauspielerInnen, und während im Rahmen des Theatertreffens kein spezieller Regie-Preis verliehen wird, gibt es für DarstellerInnen den Alfred-Kerr-Preis.
Jurorin war in diesem Jahr Eva Mattes, die Lina Beckmann den Preis zuerkannte. Lina Beckmann war in den beiden Produktionen vom Schauspiel Köln zu erleben, und Eva Mattes sagte über sie: „She `s a natural woman und sie beherrscht die Bühne.“
Der Theaterpreis der Stiftung Preußische Seehandlung, den im letzten Jahr die große Schauspielerin Margit Bendokat erhielt, ging in diesem Jahr an den Regisseur Dimiter Gotscheff zusammen mit den SchauspielerInnen Almut Zilcher, Samuel Finzi und Wolfram Koch.
Wenn Regie der wichtigste Teil von Inszenierungen wäre, hätte seit 2003 im Zusammenhang mit dem tt vorrangig über Iris Laufenberg berichtet werden müssen, Leiterin des Theatertreffens, die alle Fäden in der Hand hatte, das Gesicht des Festivals geprägt hat und es aus der Krise, in die es nach dem Mauerfall geraten war, gemeinsam mit Joachim Sartorius, dem Intendanten der Berliner Festspiele, hinausmanövriert und zu einer unangreifbaren Instanz gemacht hat. Iris Laufenberg war immer überall, wo sie gebraucht wurde, für das Publikum, das einfach spannendes Theater erleben wollte, aber eine Unbekannte im Hintergrund.
Iris Laufenberg wird sich, gemeinsam mit Joachim Sartorius , Ende des Jahres von den Berliner Festspielen verabschieden .Vor dem nächsten Theatertreffen wird sie nicht mehr bei der Pressekonferenz auf dem Podium sitzen und, ehe noch jemand wagt, eine kritische Frage zu stellen, die Schwachstellen des Festivals provozierend herauskehren.
Frau Laufenberg, Sie werden mir fehlen, und ich wünsche Ihnen – – ach Quatsch, Sie werden mir fehlen.