Hauptakteure des »Gipfels« waren neben namhaften Wissenschaftlern Minister, Staatssekretäre, Vertreter der WHO und, mit massivem Aufgebot, Manager der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie. Letztere lassen es sich etwas kosten, Forschung und industrielle Nutzung zu verflechten. Ihre Symposien waren prägnanter Teil des Programms. Die Auffassung des Kopräsidenten Axel Kahn, Rektor der Université Paris Descartes, Gesundheit sei ein grundlegendes Menschenrecht, aber zugleich ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, findet das Wohlwollen der Regierenden. Unter diesem Vorzeichen übernahmen die Schirmherrschaft Angela Merkel und Nicolas Sarkozy, die gnadenlos ihre Haushalte ruinieren, um die Wirtschaft zu stützen.
Diese Ausrichtung rief Gewerkschaften und gesundheits- und entwicklungspolitische Initiativen auf den Plan. Genau das sei nicht geeignet, die weltweiten Gesundheitsprobleme zu lösen. Der medizinische Fortschritt erreiche die Mehrheit der Weltbevölkerung fast gar nicht. 2 Milliarden Menschen haben kein sauberes Trinkwasser, eine Milliarde leidet an Hunger und Unterernährung. Die altbekannten Armutskrankheiten wie Tuberkulose, Malaria, HIV und Aids breiten sich aus. 90 Prozent der für Forschung ausgegebenen Mittel kommen nur 10 Prozent der Weltbevölkerung zugute. Von 1977 bis 1999 wurden zum Beispiel 1393 neue Medikamente entwickelt, davon lediglich 15 gegen Tropenkrankheiten und 3 gegen Tuberkulose. 69 Prozent der Medikamente zeitigten gar keine therapeutische Wirkung.
Aus dem Stand organisierten die Kritiker parallel zum »Gipfel« eine Alternativkonferenz mit rund 100 Teilnehmern. Ein echter Weltgesundheitsgipfel, erklärten sie, müsse das Streben nach sozialer Gerechtigkeit und demokratischer Partizipation als Grundvoraussetzung von Gesundheit diskutieren und: wie das Recht auf Zugang zu den Gesundheitsdiensten für alle, unabhängig vom Einkommen, garantiert werden kann. Die Forschung müsse an den Gesundheitsbedürfnissen ausgerichtet sein, besonders in den Armutsregionen, die Betroffenen müssten an Lösungen beteiligt werden, und solidarische Finanzierungssysteme müssten die ärztliche Versorgung sichern. Der »Gipfel« habe nur den Blick von oben, aber die unten müssten mitreden können. »Gesundheitspolitik beginnt beim Wohnen und bei der Arbeit«, betonte Herbert Weisbrod-Frey von der Gewerkschaft Ver.di. Grundlagen von Gesundheit sind Vollbeschäftigung, Mindestlohn und Verbesserung des Lebensstandards.
Wieso organisiert die WHO nicht gemeinsam mit Nichtregierungsorganisationen eine Konferenz zu Grundfragen der Gesundheitsfürsorge, sondern begnügt sich hier mit einer Nebenrolle? – wollten Konferenzteilnehmer wissen. Es sei doch typisch, dass sich der »Gipfel« in einer Schaltung mit der Orbitalstation ISS über die Wirkung der Schwerelosigkeit austausche, statt zu fragen, ob die Menschen Essen und Trinken haben. Thomas Gebauer von medico international wetterte: Es sei ein starkes Stück, sich mit randständigen Problemen, statt mit den wahren Verhältnissen zu befassen. Mit Teilnehmergebühren von 990 Euro halte man die Macher der Basis vom Kongress fern. Der »Gipfel« trage eher zu den Problemen bei, statt sie zu lösen. Wenn die Mediziner sich Davos als Beispiel nähmen, müsse man ihren Kongress genau so kritisch begleiten.
Um dem Widerstand die Luft herauszulassen, erschien Detlev Ganten, ehemals Vorstand der Charité und der »Vater« des Gipfels, bei den Alternativen. Er lud sie zum nächsten Gipfel im Oktober 2010 in Berlin ein. Ihre Themen könne er in sein Programm integrieren. Dem alten Strategen gelang es, dass in der Gegenkonferenz eine Debatte über Beteiligung oder nicht ausbrach. Das tiefe Misstrauen gegen die Pharmaindustrie löste scharfe Reaktionen aus: die könnte die Kritiker zu vereinnahmen suchen. Es passte wie die Faust aufs Auge, dass der Pharmariese Pfizer während des Kongresses einen mit 75.000 Euro dotierten Preis für Forschungen junger Wissenschaftler verlieh. Grundsätzlicher Einwand gegen eine Beteiligung: Die öffentliche Gesundheitsfürsorge sei auf dem «Gipfel« nicht aufgehoben. Für die Teilnahme sei ein deutlich anderer Inhalt nötig. Eben das zu bewirken, sei zu bezweifeln. Zu einer Einigung kam es nicht. Das Bündnis wird sich beraten.
Warum findet der nächste Gipfel wieder in Berlin statt? Ob die anderen M8-Mitglieder die Kosten scheuen, wollte Pressesprecherin Ulrike Gregor nicht bestätigen. Es sei möglich, dass Berlin der ständige Sitz werde. Über die Kosten des Berliner Kongresses verweigerte der Projektmanager Wolfgang Huong jede Auskunft. Grosse Bedenken gegen die Wiederholung in Berlin äußerte ein Redner der Alternativkonferenz. Die Dominanz deutscher Mediziner sei nach dem in der Geschichte von ihnen mitzuverantwortenden Schaden nicht am Platze. Sie sollten die notwendige Zurückhaltung nicht aufgeben.
Am Rande des »Gipfels« protestierten Beschäftigte der Charité gegen Lohnraub und Arbeitshetze. So seien 300 Jahre Charité kein Grund zum Feiern.