„Rabenliebe“ von Peter Wawerzinek, Verlag Galiani Berlin – Serie: Rezensionen der Sechserliste des Deutschen Buchpreises vor der Prämierung des Preisträgers am 4. September 2010 (Teil 5/6)

Der Reihe nach. Erst soll die wirkliche Geschichte erzählt sein, der Peter Wawerzinek seinen poetischen Atem gibt. Aber noch besser ist es, die Bewertung der Jury zur Auswahl für die Sechserliste zu hören: „Die Geschichte eines verlassenen, verratenen Kindes, das in Waisenheimen der DDR aufwächst. Spät erfährt der Junge, daß die Mutter in den Westen abgehauen ist und noch lebt. Es beginnt eine lebenslange Suche nach der Mutter, die erfolgreich endet, denn er findet sie – und erfolglos, denn die beiden haben einander nichts zu sagen. Mehr als nur eine Autobiografie, sondern eine große literarische Erzählung über die Einsamkeit, ein Trauergesang aus vielen Stimmen, und zugleich eine Sozialgeschichte der DDR in den sechziger Jahren.“

Peter Wawerzinek wurde 1954 in Rostock als Peter Runkel geboren. Wie im Buch beschrieben, wuchs er bei verschiedenen Pflegefamilien und in unterschiedlichen Heimen auf. Er ist seit 1988 als Schriftsteller tätig, auch als Regisseur, Hörspielautor, Sänger und melancholischen Spaßmacher, wenn man seinen gelungenen Auftritt bei der Vorstellung der sechs Autoren im Literaturhaus in Frankfurt am Main am 19. September berücksichtigt. Dort meinte er, daß von seinen bisherigen zehn Romanen nie mehr als 112 Exemplare jeweils verkauft worden wären. Nach diesem Roman, der durch seine Art des Erzählens etwas ganz Besonderes ist, liegt es nahe, sich auch die Vorgänger anzuschauen. Nach der Buchmesse, nach dem Deutschen Buchpreis.

Jetzt gilt es also, das „Wunderbare“ und das „Besondere“ am Buch festzumachen. „Ich habe gedacht, wenn ich mich schreibend verschenke, entfliehe ich dem Teufelskreis der Erinnerung. Schreibend bin ich tiefer ins Erinnern hineingeraten, als mir lieb ist.“ (9) Diese Aussage setzt Wawerzinek seinem Anfang voran, der dann wirklich mit den ersten Erinnerungen beginnt. Versuchen Sie das mal! Versuchen Sie, systematisch und ehrlich ihre frühe Kindheit von den Erinnerungen her zu rekonstruieren. Unmöglich. Und wenn dies Wawerzinek gelingt, hängt dies mit zweierlei zusammen. Er besuchte Orte und Personen von damals und es gelingt ihm ein verdichtetes, sowohl poetisches wie die heutige Wirklichkeit einbindendes und dann auch noch auf „Volks“-Musik und -Literatur eingehendes Konstrukt, das beim Lesen einen zwischen der eigenen Phantasie im Kopf und den grauenhaften, passagenweise zitierten Zeitungsberichten hin und herschüttelt.

Hinter allem Erzählen steckt ein tiefer – Humor ist nicht das richtige Wort, eine tiefe Gelassenheit, die immer die Komik der Situation voranstellt, denn die Betroffenheit, die kommt beim Lesen des Icherzählers, der glaubwürdig noch klitzeklein ist, sowieso. In die ersten Erinnerungen sind eingeschaltet die jüngsten Horrormeldungen über die Vernachlässigung, den Tod, das Ermorden, das Verdurstenlassen, das in das Tiefkühlfach Stecken, das Quälen, das Martyrium von Kindern, das wir seit Jahren in den Zeitungen lesen. Gab es das früher nicht? Sicher, aber das eigene Bewußtsein suggeriert einem, daß dies erst in den letzten zwanzig Jahren so zugenommen habe. Zwanzig Fälle sind so den eigenen Erinnerungen an die frühe Kindheit auf den ersten hundert Seiten zwischengeschoben, deren Funktion einen beim Lesen irritiert. Will der Autor andeuten, daß er ja noch mit dem Leben davon gekommen ist, und seine Mutter ihn nur zurückgelassen hat, aber nicht umgebracht, oder allgemein, daß sein Schicksal eingebettet ist in das vieler Kinder? Auf jeden Fall hat man schwer zu schlucken, diese Fälle, von denen einige mit dem Namen der Kinder auch Jahre später noch gegenwärtig sind, erneut wahrzunehmen und sich die verzweifelte Frage zu stellen, zu was Menschen, hier Mütter und Väter, Stiefeltern und Verwandte fähig sind. Aber auch, weshalb die Öffentlichkeit und das sind wir, nicht helfen können.

Helfen wollen dem kleinen Peter, der dünn und stumm ist, viele. „Ich halte meine Faszination fürs Zimmerdeckenschattenspiel für den Grund dafür, daß ich so ein stilles Kind geworden bin. Das unansprechbare, das abweisende, unantastbare Schweigekind.“ (26) Was immer der Grund war – und psychologische Gründe gäbe es genug – erst nach dem Schreiben des Buches, in dem er von vier Jahren des Schweigens ausgeht, wird ihm gesagt, nein, er habe erst mit sieben Jahren normal zu sprechen angefangen. Und das Schreckliche, was durch die Zeilen hindurchschimmert ist, daß er mit den Menschen viel bessere Erfahrungen gemacht hat, als beispielsweise die Kindheiten in den Romanen des Charles Dickens dargestellt sind. Trotzdem hilft das dem kleinen dünnen stummen Peter nicht. Denn auch wenn er nicht geschlagen und mißbraucht wird, so wird er hin und hergeschubst und allein dreimal adoptiert werden zu sollen, dreimal Hoffnung zu schöpfen, die dann zweimal vernichtet wird und einmal nicht gut ausgeht, das sind innere Verletzungen, die zur Muttersucht durch Muttersuche hinzukommen.

Da sind so viele Kleinigkeiten erwähnt, die man sich erklären möchte, sich aber zufriedengibt, daß der Icherzähler gut darüber hinweggekommen ist. Denn ihm passieren die wunderlichsten Dinge, schöne und schreckliche. Die Passage mit der Köchin, die ihn adoptieren möchte, ihr Kerl zu Hause es aber nicht zuläßt, gehört zu den Sternstunden des Buches. Spätestens da wird dem Leser bewußt, wie außerordentlich Wawerzinek erzählt, wie er Personen, Stimmungen, Handlungen in Eins webt, wie er seine Kindheitserinnerungen mit den Kindertotenlieder von Mahler – eigentlich müßte man den Texter Friedrich Rückert erwähnen – deutlicher macht, wie er Allerleihrauh und sonstige deutsche Volksweisen einbezieht, immer dann, wenn er sich in seinen Gefühlen erklären will.

Die andere Sternstunde erlebt man, wenn man durch die Geschichte hindurch die DDR sieht, riecht und schmeckt. Da ist so viel Unmittelbares, was nebenbei formuliert ist, aber dem, der es kennt, einfach Wahrheit vermittelt: Ja, so war es, solche Leute hat es gegeben. Positiv und negativ. Aber auch das Heute und damit derjenige, der ihm die Daten über die Mutter aus dem zentralen Personencomputer des Bundestages besorgt, bekommt mitsamt seinem Minister sein Fett weg beim Seezungeessen mit ausgewählten Schriftstellern – ausgerechnet Seezunge wird den „Menschen des Wortes“ kredenzt. Nie aber wird Wawerzinek laut oder lärmend oder wütend angriffslustig. Und auch nicht weinerlich und anklagend. Es ist Florett, womit er ficht, nicht weniger durchdringend die Klinge, aber elegant auf jeden Fall.

Nein, vom Besuch bei der Mutter und dem Kennenlernen der acht Geschwister im Westen erzählen wir jetzt nicht. Das sollen alle selber lesen. Aber sinnig wird einem das schon, daß erst das Aufsuchen der Mutter, vor dem schon die Pfarrerin und eigentlich alle gewarnt hatten, den Sohn Peter hat erwachsen werden lassen, allein auf der Welt, aber nicht einsam, und fähig geworden, diese Geschichte zu erzählen. Und wenn wir es uns recht überlegen, würden wir ihm den Deutschen Buchpreis zuerkennen, trotz der Vorlieben auch für andere. Aber alle anderen Romane, alle mit autobiographischen Hintergrund und ebensolchen Passagen, kann man sich auch mit anderem Verlauf, anderer Wortwahl, verändert eben vorstellen. Die „Rabenliebe“ des Peter Wawerzinek aber ist ein Buch, das nicht des Inhalts wegen, so berückend-bedrückend der auch ist, ausgezeichnet gehört, sondern der sprachlichen Art und Weise wegen, wie er daraus große Literatur macht.

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