Das Haus wurde um eine Kastanie herum gebaut, deren Stamm im Innenraum neben dem Flügel aufragt, an dem der Pianist und Dirigent Mario Formenti vom 29.09. bis zum 20. Oktober täglich von 11 bis 23 Uhr spielt.
Bei freiem Eintritt ist jederzeitiges Kommen und Gehen möglich. Nur Sprechen ist nicht erlaubt. Aber die Stille im Haus hat etwas Befreiendes. Hier ist nichts zu spüren von der angespannten Erwartung oder der unterdrückten Langeweile, wie sie in Konzertsälen herrscht. Mario Formenti scheint nur für sich selbst zu spielen und ganz tief in die Töne hinein zu horchen, die er zum Klingen bringt.
Er spielt Kompositionen von Cage, Couperin, Feldman oder Satie, Musik, die aus fernen Welten zu kommen scheint und am Hier und Jetzt nur flüchtig vorbei streift. Bei den Klängen lässt sich eigenen Gedanken nachhängen, lesen oder auch auf den auf dem Boden liegenden Matten ein bisschen schlafen. Die Entspannung, das Fallenlassen führen zu sensibler Wahrnehmung der Atmosphäre im Raum und schließlich auch zu einer beglückenden Begegnung mit der Musik, ermöglicht durch die unaufdringliche und gänzliche uneitle Präsentation von Mario Formenti.
Während „Nowhere“ vom Publikum gut angenommen wurde und auch die Ausstellung mit Zeichnungen, Entwürfen und einem kleinen Haus auf Rädern von Kyohei Sakaguchi im Haus der Berliner Festspiele im Oberen Foyer immer gut besucht ist, war „Las Multitudes“, die Eröffnungsvorstellung des Festivals, kein großer Erfolg.
Dem argentinischen Regisseur, Dramatiker, Filmemacher und Theaterlehrer Federico León ist für sein Stück, in dem neben 13 argentinischen SchauspielerInnen 108 Berlinerinnen und Berliner mitwirken, nicht viel eingefallen.
Die Menschen, alte und junge, treten in Gruppen auf, nach Geschlechtern und Generationen getrennt. Die Anliegen und Emotionen Einzelner werden jeweils von der gesamten Gruppe mit getragen. Thema ist die Liebe zwischen Frauen und Männern. Die Kinder, davon noch nicht betroffen, erfüllen eher dekorative Zwecke, bis auf den quirligen Julián (Julián Zucker), der ein entfernter Verwandter von Puck in Shakespeares „Sommernachtstraum“ sein könnte.
Die jungen Männer laufen den jungen Frauen nach, die immer schon weg und außerdem in die Musiker verliebt sind, die wiederum jedoch bereits Freundinnen haben. Die Senioren versuchen zu vermitteln, provozieren damit aber eine Prügelei der eifersüchtigen jungen Frauen und ziehen sich den Zorn der Seniorinnen zu.
Auf der meistens dunklen Bühne laufen die hell gekleideten AkteurInnen mit Taschenlampen herum, hübsch anzuschauen ist das Durcheinanderwirbeln der Menschenmassen und eindrucksvoll in strahlendem Licht findet ein Popkonzert statt.
Die jungen Männer proben den Hüftschwung wie weiland Tom Jones, eine Gruppe junger Frauen in grellbunten Hot Pants wackelt neckisch mit den Hinterteilen. Am Ende sind Alle paarweise vereint, tanzen verliebt und versinken im Disconebel.
Was in „Las Multitudes“ unter dem Mantel der Liebe verborgen bleibt, steht im Zentrum von „Love’s Whirlpool“ mit dem Untertitel „Ein Dating-Abend für vier Paare, drei Betten und uns Voyeure“. Im Stück des japanischen Autors und Regisseurs Daisuke Miura begegnen sich vier Frauen und vier Männer in einem Luxusappartment, um dort eine Nacht lang anonym Sex miteinander zu haben.
Anfänglich sind der Chef des Etablissements und ein Angestellter, der während der Nacht immer mal wieder dezent nach dem Rechten sehen wird, bei lauter Discomusik mit den Vorbereitungen beschäftigt.
Zuerst erscheint die Studentin. Wie sich herausstellt, ist sie zum ersten Mal dort, und sie wirkt so verklemmt und verschüchtert, dass der Chef ihr nahe legt, wieder zu gehen. Von ihr werden später die durchdringendsten Lustschreie zu vernehmen sein, auch wenn sie die verklemmte Haltung und die verkniffene Mimik bis zum Schluss des Stücks beibehalten wird.
Unter den Gästen ist auch ein Fließbandarbeiter, der noch über keine sexuellen Erfahrungen verfügt. Prostitution ist in Japan verboten, und so hat der junge Mann das Geld, das seine Eltern ihm für den Kauf einer Matratze geschickt hatten, investiert, um sich die Teilnahme an der organisierten Privatparty zu ermöglichen. Die Männer zahlen 20 000 Yen für die Nacht, während die Frauen mit nur 1000 Yen dabei sind.
Beim Eintreffen der BesucherInnen herrscht zunächst unsichere Zurückhaltung. Die Begrüßung erfolgt traditionell mit respektvollen Verneigungen. Nachdem Alle geduscht haben, sitzen sie angespannt da und versuchen, mit den blütenweißen Duschtüchern möglichst viel von ihren Körpern zu verdecken Belangloser Smalltalk wird ausgetauscht. Die Frauen und Männer bleiben namenlos, nur ihre Berufe nennen sie. Während die Stimmung allmählich lockerer wird, gesteht die Kindergärtnerin, dass ihre männlichen Schützlinge sie zu sexuellen Phantasien animieren. Der Vertreter offenbart zur Überraschung der Anderen, die vermutlich Singles sind, dass er verheiratet ist und ein kleines Kind hat.
Schließlich begibt sich das erste Paar die Treppe hinauf zur Galerie, auf der nebeneinander drei Betten stehen, die durch das Herunterziehen von Rollos vor Einblicken geschützt werden.
Zu sehen bekommt das Publikum nicht sehr viel. Die sexuellen Aktivitäten machen sich durch Stöhnen und Geräusche bemerkbar, die von denen, die sich im Wohnraum aufhalten, mit wachsender Begeisterung kommentiert werden. Die zunehmende Enthemmung führt zu einer handgreiflichen Auseinandersetzung mit dem Angestellten und zu bösartigen Verbalattacken gegen eine Teilnehmerin, aber im Grunde verläuft Alles recht diszipliniert. Vergewaltigungen finden nicht statt, und die Paarungen werden vorab mit beiderseitiger Zustimmung vereinbart.
Obwohl das Stück wie eine mäßig komische, erotisch aufgepeppte Boulevardkomödie erscheint, ist es sehr spannend. In seiner Inszenierung hat Daisuke Miura den Bogen vom verkrampft erwartungsvollen Beginn bis zum nüchternen Ende hervorragend herausgearbeitet.
Das Stück ist in kurze Szenen unterteilt. Nach den Unterbrechungen wird angezeigt, dass die Zeit mittlerweile etwas weiter voran geschritten ist, und die AkteurInnen machen durch leicht verändertes Verhalten das inzwischen Geschehene erkennbar.
Die SchauspielerInnen sind brillant in ihrem präzisen Zusammenspiel wie auch in der eindrucksvollen Gestaltung der unterschiedlichen Charaktere. Die Darstellung wirkt realistisch, gerade weil sie leicht überzogen ist ohne jedoch zu karikieren.
Faszinierend zu beobachten ist das Entstehen eines ganz zarten Gefühls zwischen der Studentin und dem Mann, mit dem sie zweimal die Galerie aufgesucht hat. Beide scheinen überrascht zu sein von ihren Empfindungen, die nur durch Blicke und unsichere Gesten zum Ausdruck kommen. Die Worte dazu sind in den Liedern von Schumann und Schubert zu hören, die nun beim Szenenwechsel ertönen.
Die Liebesgeschichte endet bevor sie begonnen hat, denn den Austausch von Telefonnummern oder Adressen verbietet das Reglement des Etablissements. Im Morgengrauen treten die Frauen zehn Minuten vor den Männern den Heimweg an, und es ist nicht zu erwarten, dass die Studentin heimlich an der nächsten Ecke auf ihren Auserwählten wartet. Sie ist, wie die anderen BesucherInnen auch, Vertreterin einer Gesellschaft, die ihre Bedürfnisse mit kommerziellen Angeboten zu befriedigen pflegt und darüber vergisst, dass die Erfüllung einiger Sehnsüchte sich nicht erkaufen lässt.
Das Publikum, das während der zweistündigen Vorstellung auf der Seitenbühne im Haus der Berliner Festspiele niemals ins Spiel mit einbezogen wurde, sondern deutlich vermittelt bekam, dass es Menschen betrachtete, die sich ganz unbeobachtet fühlten, konnte am Ende nur dem geschlossenen Vorhang applaudieren.
Auch die VoyeurInnen werden ernüchtert nach Hause geschickt.