Berlin, Deutschland (Weltexpress). Das Jahr 2024 steht im Gedenken an Johannes XXIII., vom 28. Oktober 1958 bis zu seinem Tod am 3. Juni 1963 Papst. Nach der Seligsprechung am 3. September 2000 durch Johannes Paul II. wurde er am 27. April 2014 von Franziskus heiliggesprochen. Sein Gedenktag in der römisch-katholischen Kirche ist der 11. Oktober, der Tag an dem er 1962 das Zweite Vatikanische Konzil eröffnete. Die evangelisch-lutherische Kirche in Amerika gedenkt seiner am 3. Juni, so auch dieses Jahr, bereits.
Er unterbrach die reaktionäre Tradition
Mit Angelo Giuseppe Roncali kam am 28. Oktober 1958 der Sohn eines armen Vier-Hektar-Bauern aus der Po-Ebene auf den Stuhl Petri. Er nannte sich als Papst Giovanni Ventitre, Johannes XXIII. Er wird auch „der Konzilspapst“ und wegen seiner Bescheidenheit und Volksnähe im Volksmund „il Papa buono“ (der gute Papst) genannt.
Für knapp fünf Jahre wich er als Pontifex von der Faschismus und Reaktion stützenden Traditionslinie der Kurie ab.
Zur Charakteristik soll ein Aspekt seiner Haltung zum Faschismus in Deutschland und Italien vorangestellt werden. Roncali, in dieser Zeit Erzbischof und Nuntius in Istanbul, machte Pius XII. auf „die Gräuel in Auschwitz“ aufmerksam. In Istanbul unterhielt er Kontakte zu dem Emissär der Jewish Agency, Haim Barlas, von dem er umfangreiche Informationen über die in Auschwitz begangenen Verbrechen erhielt. Sie stammten von zwei Juden, die im April 1944 aus Auschwitz fliehen konnten, und wurden später als „Protokolle von Auschwitz“ bekannt. Aus ihnen ging klar der Zweck der Lager in Auschwitz hervor – die massenhafte Vernichtung der Juden. Roncali schickte unverzüglich eine Zusammenfassung des Berichts per Telegramm nach Rom. Es wird in einem Briefwechsel erwähnt, den der Nuntius mit Barlas führte, der in dessen privatem Nachlass in Israel gefunden wurde. Unter der Überschrift „Ein ignoriertes Telegramm“ berichtete die spanische Geschichtszeitschrift „Historia y Vida“ darüber und hielt fest, dass die bis heute verbreitete Version des Vatikans, er habe „erst im Oktober 1944“ über genauere Details über Auschwitz verfügt, eine Lüge ist.1 Mit der lakonischen Begründung, die in den vatikanischen Archiven gelagerte Korrespondenz Roncalis sei (man beachte, nach über einem halben Jahrhundert) noch nicht „deklassifiziert“ worden, lehnte der Vatikan es ab, zu seinem damaligen Verschweigen der Information Stellung zu nehmen.2 Zu Giovanni Ventitre aber hält Hans Kühner fest, dass er in Israel „als Retter von wohl hunderttausend Juden während der Hitlerdiktatur unvergesslich geblieben ist“. Dafür wird seiner in Jerusalem auf der Gedenkmauer Yad Vashem gedacht. Es ist eine Ehrung, die Pius XII., obwohl es ein öffentlich bekanntes Anliegen des Vatikans ist, verwehrt wird.
Frische Luft hereinlassen
Johannes XXIII wollte, „die längst überfällige Öffnung der Kirche gegenüber der Welt“ einleiten.3 Sein Ziel war, sie auf realistischen Grundlagen neuen Entwicklungsbedingungen anzupassen, sie damit weniger anfällig zu machen und so zu stärken. Keinesfalls ging es ihm darum, ihren weltweiten Einfluss abzubauen.4 Seine herausragende Leistung war die Einberufung des II. Vatikanischen Konzils. Gegen den Widerstand der konservativen Kreise des Klerus, darunter der einflussreiche New Yorker Kardinal Spellmann, eröffnete er diese Versammlung der Erzbischöfe, Bischöfe und Ordensoberen aus aller Welt im Oktober 1962. Da das erste vatikanische Konzil 1870 das Dogma der päpstlichen Unfehlbarkeit in allen Angelegenheiten des Glaubens und der Sitte dekretiert hatte, stand die Frage, welchem Ziel das einberufene Konzil dienen sollte. Es ist überliefert, dass Giovanni, als er in seinem Arbeitszimmer danach gefragt wurde, zum Fenster ging, es öffnete und sagte: „Wir erwarten vom Konzil, dass es frische Luft hereinlässt.“5
Das Dekret „Über die Religionsfreiheit“
Von herausragender Bedeutung waren besonders die Beschlüsse des Vatikanums zur Durchsetzung von Toleranz unter den Religionen, die in dem Dekret „Über die Religionsfreiheit“ ihren Niederschlag fanden. Dazu gehörte vor allem die Absage an den Antijudaismus, in der es hieß, die Kirche beklage „alle Hassausbrüche, Verfolgungen und Manifestationen des Antisemitismus, die sich zu irgendeiner Zeit und von irgendjemanden gegen die Juden gerichtet haben“. Diese Erklärung führte dann nach dem Machtantritt Benedikt XVI. mit seiner Rücknahme des gegen die Piusbischöfe verhängten Kirchenbanns zu einem Wiederausbruch der Auseinandersetzung über die Konzilsbeschlüsse.
Der 1991 verstorbene französische Erzbischof Marcel Lefebvre, der spätere Begründer der Piusbruderschaft, nannte die Beschlüsse des Konzils eine Folge des satanischen Einflusses auf die Kirche und verweigerte seine Unterschrift unter das Toleranzdekret. Er verwarf auch die beschlossene Erklärung „gaudium et spes“ (Freude und Hoffnung). Diese „Pastorale Konstitution über die Kirche in der Welt von heute“ sollte ein neues Verhältnis zu den Gläubigen, des Eingehens auf ihre Bedürfnisse und ihre Entfaltungswünsche einleiten.6 Ebenso lehnte Lefebvre das Dekret über den Ökumenismus „Unitatis redintegratio“, die Erklärung über das Verhältnis der Kirche zu den nichtchristlichen Religionen „Nostra aetate“ und die Lehre über das gemeinsame Priestertum aller Gläubigen ab.
„mater et magistra“: „Christentum und sozialer Fortschritt“
1959 – ein Jahr bevor in Afrika 17 Staaten die nationale Unabhängigkeit errangen und damit der völlige Zerfall des alten Kolonialsystems einsetzte, sprach Johannes XXIII. sich für die Anpassung der katholischen Kirche an den Entkolonisierungsprozess aus und sicherte dem autochthonen Klerus der dritten Welt volle Gleichberechtigung zu. In der 1961 erlassenen „mater et magistra“ (Mutter und Lehrmeisterin),7 erörterte er Fragen von „Christentum und sozialen Fortschritt“ und wollte eine vorsichtige Reform einiger überholter Leitsätze der katholischen Soziallehre einleiten, welche die „unerbittliche Hütung des Privateigentums“8 postuliert hatte. Er trat natürlich nicht für dessen Beseitigung ein, setzte aber einige neue Akzente. Seine Enzyklika ging auf die Ärmsten in den Industrienationen ebenso wie auf die noch Ärmeren in den Entwicklungsländern und in den noch bestehenden Kolonien ein. Er erwähnte ihren Bedarf an Grundgütern, aber auch ihre Menschenwürde und forderte soziale Gerechtigkeit, die er als Teilnahme aller Menschen am Wohlstand definierte. Giovanni Ventitre sprach vom Recht auf Privateigentum im Zusammenhang mit dem Recht auf Mitbestimmung am Arbeitsplatz und den Problemen der „Vergesellschaftung“. Er gebrauchte den Begriff der „Sozialisation“ und nannte ihn „Ausdruck eines sozusagen unwiderstehlichen Strebens der menschlichen Natur; des Strebens, sich mit anderen zusammenzutun, wenn es darum geht, Güter zu erlangen, die von den einzelnen begehrt werden, jedoch die Möglichkeiten und Mittel des einzelnen überschreiten“. Das waren natürlich lediglich reformistische Gedanken, die aber die meisten sozialdemokratischen Parteien zu dieser Zeit aufgegeben hatten. Giovanni Ventitre unterschied sich in dieser Haltung von der antikommunistischen Kreuzzugsideologie und -praxis seiner Vorgänger.
Toleranz gegenüber Kommunisten und Sozialisten
In „mater et magistra“, wandte er sich auch Problemen zu, die später als Nord-Süd-Konflikt zusammengefasst wurden. Die mit Reichtum und Überfluss gesättigten Staaten mahnte er, jene Völker nicht zu vergessen, die „vor Elend und Hunger fast zugrunde gehen“. Es war eine Kritik am imperialistischen System, wie sie kein Papst vor und bis heute nach ihm übte. In Italien widmete er sich der Arbeiterfürsorge, suchte den Ausgleich mit den Sozialisten und scheute auch nicht vor Kontakten mit den Kommunisten zurück. Giacomo Manzù, einem der großen Bildhauer der Welt, von dem öffentlich bekannt war, dass er als Katholik mit den Kommunisten sympathisierte, beauftragte er, ein amtliches Porträt in Büstenform von sich zu schaffen. Manzú nahm später Johannes auch die Totenmaske ab.
Chruschtschow übermittelte ihm zu seinem 80. Geburtstag im November 1961 persönliche Grüße „mit dem aufrichtigen Wunsch für gute Gesundheit und Erfolg bei dem edlen Bemühen zur Stärkung und Festigung des Friedens in der Welt durch Lösung der internationalen Probleme durch freimütige Verhandlungen“. Der Papst hörte nicht auf die Ratschläge, sie unbeantwortet zu lassen. Er sandte dem sowjetischen Führer seinen aufrichtigen Dank, dem er hinzufügte, „ich werde für das Volk Russlands beten.“
Friedensappell während der Kubakrise
Im Oktober 1962 nahm er zur Kubakrise, welche die Gefahr des Ausbruchs eines atomaren Weltkrieges in sich barg, Stellung. Nach Rücksprachen mit Chruschtschow und Kennedy sandte er am 25. Oktober einen Friedensappell in die Welt.9 Vom Tauwetter in den Beziehungen zwischen dem Vatikan unter Johannes XXIII. zeugte, dass die Bischöfe der sozialistischen Staaten am Konzil teilnahmen. Am 7. März 1993 gewährte der Papst die erste Audienz für einen prominenten Kommunisten, dem Chefredakteur der sowjetischen Regierungszeitung „Iswestija“ und Schwiegersohn Chrutschschows, Alexej Adschubei, den er zusammen mit seiner Frau, der Tochter des KPdSU-Generalsekretärs, empfing. Hier soll nicht verschwiegen werden, dass sich auch die Ostpolitik Johannes XXIII. einfügte in die Strategie der Aufweichung der sozialistischen Staaten. Aber es war zweifellos eine Linie, die sich von der von einem Karol Wojtyla eingeschlagenen und von Joseph Ratzinger unterstützten, unterschied. 10
„pacem in terris“, Frieden auf Erden
In seinem Todesjahr erschien seine dritte Enzyklika, „pacem in terris“ (Frieden auf Erden), in der er für ein Verbot der Atomwaffen und für das Ende des Wettrüstens eintrat, die Rassendiskriminierung verurteilte, sich für den Schutz von Minderheiten und die Rechte politischer Flüchtlinge einsetzte. Johannes XXIII. konnte das Konzil nicht zu Ende führen. Er starb während der Versammlung am 3. Juni 1963. Seine Nachfolger Paul VI. und nach ihm der polnische Papst Wojtyla sorgten dafür, dass die von ihm ins Auge gefassten sehr gemäßigten Reformen, wo sie nicht rückgängig gemacht wurden, stagnierten. Einen Schwerpunkt der reaktionären Offensive, die Benedikt XVI. seit seinem Amtsantritt führte, bildete die Aufhebung von Konzilsbeschlüssen. Vor allem im Lichte seiner Nachfolger Wojtyla und Ratzingers wird ersichtlich, dass Giovanni Ventitre während der kurzen Zeit, in der er den Stuhl Petri inne hatte, Spuren des Wirkens für Frieden und Menschlichkeit hinterlassen hat, die von keinem Papst vor und nach ihm bekannt wurden.
AnmerkunIcgen:
1 Nr. 467/2007.
2 Ebd.
3 Norbert Sommer : Tradition, Tradition… In: Norbert Sommer/Thomas Seiterich (Hg): Rolle rückwärts mit Benedikt XVI., Oberursel 2009, S. 196. Sommer studierte u. a. Politische Wissenschaften und Sinologie und ist Verfasser zahlreicher Bücher zum Vatikan.
4 Lawrence Elliott : Johannes XXIII., Freiburg 1974, S. 265.
5 Ebd., S. 269.
6 Andrea Günter: Theologie des Geborgenseins. Gaudium et Spes und die Geschlechter im Christentum. In: Sommer/Seiterich, S. 95, 219.
7 Mater et Magistra, Freiburg 1961.
8 Zu den Zitaten siehe Elliott, passim.
9 Wojtyla hochgejubelt, Giovanni vergessen. Beitrag des Autors in junge Welt, 28. Okt. 1998.
10 „Was wird nach Franziskus kommen“, Beitrag des Autors in „Weltexpress“, 23. Juni 2024.
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