Berlin, Deutschland (Weltexpress). Bei Olympiasieger Christoph Harting (26) ist Wochen nach dem größten Moment seines sportlichen Lebens ein Neuanfang angesagt. Hatte er bis zum Olympiaspektakel im August regelrecht Medienabscheu demonstriert – und in Rio de Janeiro nur ungehalten das Mindest-Pflichtprogramm absolviert -, so öffnet er sich nun den Medien. Präsentierte sich auf einer Pressekonferenz. Und gewährte in Zeitungsinterviews Einblicke in seine nicht alltägliche Sicht der Dinge. Dabei offenbarten sich Konturen einer eigenwilligen und komplizierten Persönlichkeitsstruktur!
Deutlich war das einem Millionen-TV-Publikum geworden, als er während der olympischen Siegerehrung und Nationalhymne herumhampelte, die Arme verschränkte und Mitpfeifen andeutete. Und dabei die Grenzen des Normativen in dieser Situation überschritt. Dafür erntete er einen Shitstorm in den sozialen Netzwerken, Rügen von der Mannschaftsleitung und Kritik von deutschen Olympioniken.
Die Erklärung für solch unübliches Verhalten und manch irritierende Aussagen dürfte im Wunsch liegen, als eigenständige Person Aufmerksamkeit und Anerkennung zu erhalten. Und nicht als Anhängsel des großen Bruders wahrgenommen zu werden. Denn der 32-jährige Robert Harting – spektakulärer Trikot-Zerreißer nach großen Triumphen – hat mit der 2-kg-Diskusscheibe alles gewonnen, was es mit diesem klassischen Sportgerät zu holen gibt: Olympiasieg 2012, dreimal Weltmeister, Europameister. Nationale Anerkennungen und Würdigungen, u.a. Sportler des Jahres, zuhauf. Hat sich als Erfolgsgesicht der deutschen Leichtathletik, als Werbeträger, knallharter Kritiker profiliert.
Der Wunsch nach Eigenständigkeit und Unverwechselbarkeit des Jüngeren wird an einem eigentlich nebensächlichen Detail erkennbar. Der Modellathlet hat sich auf seine Brust 16 englische Worte wie Liebe, Schmerz, Glück, Leichtathletik tätowieren lassen. Als vermeintliche Widerspiegelung seiner Seele. Darunter das erste Wort insane, geisteskrank. Das stehe dafür, dass er sich die Jugend nicht austreiben lassen wolle, so Harting!
Während Robert, der sich nebenher mit dem Studium der Kommunikationswissenschaften und Sportmarketing-Problemen beschäftigt hat, Dienste von PR-Beratern, Agenturen und die sozialen Medien nutzt, hat sich Christoph in Abgrenzung dazu diesen Bereichen bisher verweigert: „Ich habe weder einen Facebook- noch Twitter-Account. Ich finde, Social Media ist mit das Schlimmste, was dieser Welt passiert ist.Wenn man den Menschen noch gläserner, noch transparenter macht, können wir gleich alle mit Computerchips rumlaufen.“
Die von ihm bevorzugte Do-it-Your-self-Methode führt nicht unbedingt zu einer optimalen Ausbeute. Im Gegensatz zu Robert, Spitzenverdiener der deutschen Leichtathletik und damit einige Gehaltsklassen über Christoph, hat der Jüngere kein Förder-Abkommen mit der Deutschen Sporthilfe unterzeichnet. Als Gegenleistung gehen dann 5 % der Werbeeinnahmen des Sportlers und maximal 5000 Euro im Jahr zurück an die Sporthilfe zur Unterstützung des Nachwuchses.
Weil er mit einem olympischen Medaillenrang eher nicht gerechnet haben dürfte, lehnte er diese Vereinbarung ab. Und so hat er keinen Anspruch auf die von der Sporthilfe ausgelobte Olympiasieg-Prämie von 20 000 Euro und somit mindestens 15 000 verpasst.
Wie bei Robert scheint IOC-Präsident Thomas Bach zum Lieblings-Feindbild zu taugen. Und so ließ denn Christoph wegen Bachs Rücksichtnahme bei Russlands Doping-Sanktionen verlauten: „Mir fällt da ein Zitat ein: Die heißesten Orte der Hölle sind für jene reserviert, die in Zeiten moralischer Krisen keine Partei ergreifen.“
Hatte er sich noch in Rio auf Druck der Mannschaftsleitung und des medialen Shitstorms für seine Eskapaden auf dem Siegerpodest halbherzig entschuldigt, so wiederholte er Wochen später, er sei in diesem Moment „hormon-technisch übersteuert“, überwältigt und nicht mehr ganz Herr seiner Sinne gewesen…
Nun ließ er verlauten, er könne sich an Einzelheiten der Siegerehrung kaum erinnern. Da seien nur Fetzen im Bewusstsein. Die häusliche TV-Aufzeichnung sei versehentlich gelöscht. Die Goldmedaille und andere Auszeichnungen würden im Keller lagern. Die komplette Ausstattung der Olympiateilnehmer von Shirts bis zum Mobiltelefon im Werte von 12 000 Euro will er zugunsten einer Kita versteigern lassen.
Und er stünde zu seinem Verhalten in Rio (Welt am Sonntag). Viele hätten sich über ihn aufgeregt, „aber mein Gott. Wenn eine Gesellschaft keine anderen Probleme hat, als sich darüber aufzuregen, wie sich ein Olympiasieger freut, dann geht es diesem Land gut, und das finde ich schön.“
Er bereue nichts. „Sie sollten aber auch wissen, wenn ich etwas falsch gemacht habe, entschuldige ich mich natürlich dafür“, sagte er. Wenn er die Zeit zurückdrehen könnte, würde er sich „um andere Sachen kümmern: Hitler an der Wurzel seiner Macht stürzen, oder 9/11 verhindern.“
Da passt es ins Bild, dass er sich an den größten Sportikonen der Geschichte orientieren möchte: Boxer- und Antikriegs-Heros Muhammad Ali oder Formel 1-Rekord-Weltmeister Michael Schumacher. Begründung: Gesunder Ehrgeiz sei immer ein Motor, „ und mein Ehrgeiz geht dahin, dass ich dorthin werfen werde, wo kein anderer mehr hinkommen wird. Mein Weltrekord wird das Ende der Fahnenstange sein.“
Das hieße dann Kurs auf eine heute noch imaginäre 80-m-Marke!
Die aktuelle Bestmarke hält noch immer der Schweriner Jürgen Schult mit 74, 08 m. Erzielt vor 30 Jahren auf einer Segelwiese und in einer Ära, als Doping weltweit noch unkontrollierter betrieben wurde als heutzutage.
Christoph Harting, mit 2,07 m Größe über günstigere Hebelverhältnisse und bessere Schnellkraft als Robert verfügend, rangiert mit seiner Goldweite von 68,37 m auf Platz 50 einer „ewigen“ Bestenliste. Vor ihm mit größeren Weiten vier deutsche Athleten. Außer Schult der fünfmalige Weltmeister und Olympiasieger Lars Riedel, Wolfgang Schmidt und Bruder Robert (70,66 m).
Erst einmal die 70-m-Marke überwinden zu wollen und dann sehen, was noch möglich ist, wäre ein durchaus ambitioniertes Ziel und denkbares Vorhaben. Aber die 80 m zu postulieren, sprengt momentan den Rahmen des sportlich Vorstellbaren.
Ungewöhnlich ebenfalls seine Selbsteinschätzung: „Ich bin zur Legende geworden. Ich denke, ich bin in jedem Sportgeschichtsbuch. In allen sportpolitischen Magazinen kann man nachlesen, wer wann Olympiasieger war“.
Was der kommunikationsfreudige Bruder von solchen Ankündigungen hält, ist nicht bekannt. Dagegen ist überliefert, dass Robert während des Goldwettkampfes, in dem er wegen eines Hexenschusses in der Qualifikation gescheitert war, auf der Tribüne saß. Aber nicht persönlich, sondern lediglich per Twitter gratulierte: . „Gratuliere. Freue mich extrem für Dich der Generationswechsel ist eingeleitet.“
Auf die Frage nach ihrem Verhältnis zueinander, sagt Robert: „Wir lieben beide unsere Eltern. Deshalb sprechen wir auch nicht übereinander. Das ist intern.“ Wie schwierig der Umgang miteinander ist, zeigt die Tatsache, dass beide bei der Eheschließung des anderen nicht zugegen waren.
Nun scheint Christoph willens, mit einer medialen Offensive möglichst rasch Defizite im Bekanntheitsgrad auszugleichen. Allerdings provokanter, krawalliger und von einer stärkeren Hybris geleitet als Robert in seiner medialen Lernphase.
Möglicherweise wäre ein Filtern seiner Äußerungen und Gedankengänge durch mediale Profis angebracht gewesen. Denn mit nun vorliegenden Inhalten oder auch der Wortwahl dürften viele überfordert sein.
Auf dem Weg zur Emanzipation vom Überbruder und der Entkrampfung im Verhältnis könnte die Auflösung der gemeinsamen Trainingsgruppe behilflich sein. Robert, Ehefrau und Weltklasse-Werferin Julia Fischer-Harting kreiseln nun unter den Fittichen von Neu-Bundestrainer Marko Burda im Diskusring. Und Christoph bleibt bei Trainer Torsten Lönnefors , dabei „voll auf Weltrekord fokussiert“.
Zudem hat sich Polizeimeister Harting, Dienststelle Bundes-Polizeischule Kienbaum, 50 km östlich von Berlin, in Berlin für ein Psychologie-Studium eingeschrieben. Eine der ersten Studienaufgaben verlangt von ihm – eine Selbstanalyse.
Ansatzpunkte – siehe obige Zitate – zu aufschlussreichen Ergebnissen sollte es auf jeden Fall geben.