Berlin, Deutschland (Weltexpress). Für die meisten Schweizer – ziemlich genau 90 Prozent der Eidgenossen – ist die Neutralität eine Heilige Kuh, die man ungestört auf unseren idyllischen Alpen weiden lassen und keinesfalls schlachten sollte. Erst kürzlich, nämlich am Weltwirtschaftsforum in Davos, wurde sie von einem unserer Regierungsmitglieder erneut beschworen. Doch Neutralität wird in der Schweiz im selben Atemzug mit einem anderen Grundprinzip genannt: Solidarität. Diese sei, so formulierte es Bundesrat Cassis, der „Zwilling“ unserer Neutralität. Damit könnte man sich zufriedengeben. Hier aber beginnt erst die Krux. Aktuell geht es um die Ukraine. EU-Kommissionspräsidentin Van der Leyen, Nato-Generalsekretär Stoltenberg und der deutsche Vizekanzler Habeck kritisieren die (mit ihrer Neutralität begründete) Weigerung der Schweiz, Drittstaaten zu gestatten, aus der Schweiz importierte Waffen an die Ukraine weiterzuleiten. Im März ließ die Schweiz aufhorchen, als sie außer Dienst gestellte „Rapier“-Flugabwehrraketen verschrottete, statt diese der Ukraine zu überlassen.
Das Neutralitätsrecht beruht auf der Haager Landkriegsordnung von 1907. Dieses verpflichtet die Signatarstaaten zur Gleichbehandlung von Konfliktparteien durch den neutralen Staat. Die Schweizer Regierung beruft sich darauf, dass (selbst indirekte) Waffenlieferungen an die Ukraine das Gleichbehandlungsgebot verletzen würden. Traditionell beruft sich die Schweiz darauf, dass sie als „Neutraler“ die besten Chancen habe, zwischen Konfliktparteien zu vermitteln – die viel beschworenen „Guten Dienste“. Doch inzwischen haben auch andere diese prestigeträchtige Rolle übernommen, unter anderem das Nato-Mitglied Norwegen.
Dass wir völkerrechtlich zur Neutralität verpflichtet wären, ist eine falsche Annahme. Als souveräner Staat darf die Schweiz ihre Neutralität jederzeit neu definieren – oder abschaffen, falls künftig eine Zusammenarbeit mit der Nato ihren Sicherheitsinteressen eher dienen würde. So stünde es der Schweiz frei, den Mitgliedstaaten der Landkriegsordnung oder auch der gesamten Staatengemeinschaft zu notifizieren, dass wir im Fall eines völkerrechtswidrigen Angriffs gegen einen europäischen Staat nicht mehr verpflichtet fühlen, den Grundsatz der Gleichbehandlung der Konfliktparteien aufrecht zu erhalten. Doch dem rechtsgerichteten Politiker Christoph Blocher geht selbst die zurückhaltendende Haltung der Schweiz zu weit – sie habe „die Neutralität geschändet“, indem sie sich an den Sanktionen gegen Russland beteilige. Er fordert eine Rückkehr zur „integralen (umfassenden) Neutralität“ wie 1938, als die Schweiz beschloss, die Sanktionen des Völkerbundes gegen Deutschland nicht umzusetzen: Sie betrieb während des Zweiten Weltkriegs Handel mit Nazideutschland und dem faschistischen Italien – und schickte zugleich an ihren Grenzen Zehntausende Juden zurück in den sicheren Tod.