Napoleon Bonaparte, Repräsentant der Revolution und Eroberer

Napoleon I. im Krönungsornat, 1804, Ölgemälde von Jean-August-Dominique Ingres (1780-1867). © Musee de L'Armee, Paris

Berlin, BRD (Weltexpress). Der Beitrag über „Andreas Hofer gegen Napoleon“ (WELTEXPRESS, 21.11.2024) ist einzuordnen in die widersprüchliche Rolle Bonapartes als Repräsentant der Revolution und Eroberer. Mit der Großen Französischen Revolution (1789-1794) kam in Paris die Bourgeoisie an die Macht. Vorher war bereits in England in einer vor allem von oben geführten Revolution die Großbourgeoisie zur herrschenden Klasse aufgestiegen. Frankreich wurde zum Zentrum des politischen Weltgeschehens, von dem die entscheidenden Impulse für den gesellschaftlichen Fortschritt in Europa ausgingen. Unter Bonaparte trat die Bourgeoisie – ein völlig natürlicher Prozess – an, ihre Vorherrschaft auf dem Kontinent durchzusetzen. 1796 drang Napoleon in Italien ein. Die Jakobiner und viele Italiener jubelten den Revolutionstruppen des 27-jährigen korsischen Generals zu, der die österreichischen Truppen vor sich hertrieb und am 15. Mai 1796 in Mailand einzog. Am 2. Februar feierten sie mit ihm den Fall der österreichischen Festung Mantua. Als Marschall Berthier im Februar 1798 Rom besetzte und im Kirchenstaat die Römische Republik proklamierte, bildete das einen Glanzpunkt revolutionären Einflusses. Zum ersten Mal wurde die vor über tausend Jahren errichtete erzreaktionäre weltliche Herrschaft der Päpste beseitigt. Nachdem Pius VI. (1717-1799, Papst seit 1775) sich weigerte, einen Regierungsverzicht zu erklären, wurde er verhaftet und nach Frankreich verbracht, wo er im Sommer 1799 starb.

In Oberitalien bildete Napoleon mit der Zisalpinischen und Ligurischen französische „Tochterrepubliken“. Die verkündeten Verfassungen entsprachen der Französischen von 1795. Sie garantierten die Gewaltenteilung und bürgerliche Freiheiten. Die Einführung der Zivilehe und der Scheidung schränkten den Einfluss der Kirche ein. Im Dezember 1798 zwang Napoleon Piemonts König Karl Emanuel IV. abzudanken. Der wichtigste italienische Staat wurde aber nicht zur Republik erklärt, sondern französischer Vorherrschaft unterworfen. Nach dem Sieg über die Österreicher fiel die Lombardei 1897 im Frieden von Campo Formio an Frankreich. Wien erhielt im Interessenausgleich Venetien. 1802 wurde Piemont, 1805 Venedig und 1809 der Kirchenstaat eingenommen bzw. zurückerobert, Rom zur „zweiten Stadt“ des Reiches erklärt. Die Lombardei, die Romagna, Umbrien und Venetien ernannte Napoleon zum Königreich Italien. Im Süden proklamierte er das Königreich Neapel, dessen Monarch bis 1808 sein älterer Bruder Joseph war, danach bis 1815 sein Schwager Marschall Joachim Murat. Sich selbst hatte Bonaparte nur wenige Monate nach seiner Krönung zum Kaiser der Franzosen im März 1805 im Dom von Mailand zum italienischen König ausgerufen. Als der Korse sich die eiserne Krone der Lombarden aufsetzte, warnte er: „Gott hat sie mir gegeben. Wehe dem, der daran rührt!“ Ausgenommen Sardinien und Sizilien, deren Schutz die britische Flotte garantierte, beherrschte Frankreich zu dieser Zeit ganz Italien.

Zwischenzeitlich nutzte die Reaktion der Monarchien den erfolglosen Feldzug Napoleons gegen Großbritannien in Ägypten, um zurückzuschlagen. Unter General Suworow vertrieben russisch-österreichische Truppen vorübergehend die Franzosen aus Norditalien. Eine konterrevolutionäre Armee des Papstes, die der nach Sizilien geflohene Bourbonenkönig finanzierte, eroberte Neapolitanien zurück.

Ähnlich wie danach in Deutschland traf Napoleon in Italien auf gesellschaftliche Zustände, die der Entwicklung Frankreichs um Jahrhunderte hinterher hinkten. Mit Ihm kamen wesentliche Anstöße, die tiefgreifende gesellschaftliche Veränderungen einleiteten. Dieser Prozess verlief alles andere als geradlinig. Wie in Deutschland war Napoleon auch in Italien für das Bürgertum nicht nur der Eindringling, sondern zunächst vor allem „der Repräsentant der Revolution, der Verkünder ihrer Grundsätze, der Zerstörer der alten Feudalgesellschaft“ (Friedrich Engels). Er brachte den „Code Civil“ in die eroberten Länder, ein allen bestehenden weit überlegenes Gesetzbuch, das im Prinzip die Gleichheit anerkannte.

In Piemont, im Königreich beider Sizilien und in der Lombardei bildeten Vertreter des Bürgertums, Intellektuelle, Handwerker und fortschrittliche Adlige jakobinische Vereine. Sie erhofften sich von den in Italien einmarschierenden Revolutionstruppen Unterstützung für die Proklamation eines einheitlichen Nationalstaates in Gestalt der Republik. Ihrem Ruf verlieh der bedeutendste italienische Tragödiendichter Graf Vittorio Alfieri leidenschaftlichen Ausdruck. Davon zeugte besonders 1795 sein Drama „Vom Fürsten und von der Literatur“. Dem revolutionären Bruch mit den feudal-absolutistischen Herrschaftsformen in Italien fehlte jedoch eine soziale Grundlage. Die Forderungen nach Aufteilung des Grundbesitzes der weltlichen und kirchlichen Feudalherren, wie Filippo Buonarroti und seine Anhänger sie vertraten, wurden von den italienischen Jakobinern nicht aufgegriffen. Dadurch gelang es ihnen nicht, die unterdrückten und ausgebeuteten Bauern um sich zu scharen. Feudalherren und Klerus konnten sie für ihre restaurativen Ziele einzuspannen.

Auch in Deutschland hatten die Ideen der Revolution Einzug gehalten. Das neu geschaffene Königreich Westfalen wurde für das deutsche Bürgertum zu einer Art liberalem Musterland. Napoleon hob die Leibeigenschaft und die Privilegien des Adels auf, führte Gewerbefreiheit und auch hier den „Code Civil“ ein. Der 1803 verabschiedete Reichsdeputationsausschuss löste etwa 200 Kleinstaaten auf und beseitigte damit die schlimmsten Auswüchse der politischen Zersplitterung. Im Juli 1806 bildeten 16 deutsche Fürsten den von Napoleon dominierten Rheinbund. Es folgte die offizielle Auflösung des „Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation“.

Am 14./15. Oktober 1806 trafen Napoleons noch vom Geist der Revolution beseelte Truppen bei Jena und Auerstedt erneut auf die reaktionäre preußische Arme. Deren Junkeroffiziere, die „mit Herablassung auf die Kolonnen- und Tirailleurtaktik der Franzosen“ blickten, trieben ihre Soldaten in der veralteten Linienaufstellung mit „Schimpfreden und Stockprügel“ an. Gegen sie marschierte Napoleons Marschall Jean Lannes, vor der Revolution Färberlehrling. Einzig der preußische Kompanieführer Hauptmann Gneisenau, sah, noch bevor der erste Schuss fiel, „schwer und ahnungsvoll“ die Katastrophe heraufziehen. 1 Der preußischer Staat wurde „an einem Tag bei Jena und Auerstedt in Stücke geschlagen“ (Engels). 2

Die Doppelschlacht endete mit einer vernichtenden Niederlage. Mit ihr wendete sich das Blatt. Die Eroberungsgelüste der französischen Bourgeoisie, als deren Vollstrecker der Korse handelte, wurden deutlicher als vorher sichtbar. Im Frieden von Tilsit verlor Preußen über die Hälfte seines Staatsgebietes. Lenin bezeichnete diesen Raub später als „die größte Erniedrigung Deutschlands“, die „eine Wendung zu einem gewaltigen nationalen Aufschwung“ herbeiführte. 3 Den nationalen Aufschwung leiteten gegen den Widerstand des erzreaktionären Friedrich Wilhelm III. Stein/Hardenberg mit ihren Reformen in Staat und Verwaltung, Gneisenau, der Theoretiker des Volkswiderstandes (Engels) und Scharnhorst im Heereswesen ein.

Nach der Niederlage in der Seeschlacht bei Trafalgar und dem Scheitern der Invasionspläne gegen Großbritannien befand sich Napoleon mit der Besetzung Portugals und Spaniens 1807/08 nochmals kurze Zeit auf der Siegesstraße. Dennoch war es ein „böser Irrtum“ (Golo Mann), denn noch 1808 begannen mit dem Aufstand von Madrid die europäischen Befreiungskriege. 1809 erhoben sich die Tiroler Bauern unter Andreas Hofer gegen die bayrisch-französischen Besatzer. Seit Österreich 1805 bei Austerlitz gegen Frankreich unterlegen war, hatte es neben Venetien und Vorarlberg auch Tirol verloren, was Napoleon dem verbündeten Bayern überließ. 12 Divisionen musste der Kaiser gegen die von Franz II. im Stich gelassenen Tiroler einsetzen, ehe er sie in der zweiten Schlacht am Iselberg bei Innsbruck schlagen konnte.

Nun folgte die Etappe der Fehleinschätzung des Kräfteverhältnisses, was ein Jahrhundert später im Ersten und dann im Zweiten Weltkrieg für den deutschen Imperialismus charakteristisch wurde. Napoleon begann den Feldzug in die unendlichen Weiten Russlands, wo das Volk seine eigenen Interessen hintenan stellte und mit der nationalen Unabhängigkeit gleichzeitig die reaktionäre Zarenherrschaft verteidigte. Die Vernichtung der „Großen Armee“ in Russland läutete das Ende der französischen Hegemonie in Europa ein. Von 570.000 Soldaten kehrten nur knapp 30.000 zurück. Statt sich nach Frankreich zurück zu ziehen, stellte sich Napoleon mit 191.000 Mann und 690 Geschützen im Oktober 1813 bei Leipzig der Koalition von Russland, Österreich, Preußen und Schweden, die auf dem Höhepunkt der viertägigen „Völkerschlacht“ 295.000 Soldaten mit 1.466 Geschützen zählte.

Der Wiener Kongress verdeutlichte den Sieg der feudalen Reaktion über das bürgerliche Frankreich und damit den Triumph der Konterrevolution. In ihrer Propaganda war der als Weltverbesserer angetretene Repräsentant der Bourgeoisie nur noch „das korsische Ungeheuer“. Während seiner Herrschaft der Hundert Tage im Frühjahr 1815 verketzerte ihn Wien zum „Feind der Menschheit“. Die europäischen Könige und Fürsten, die um die Beute stritten, zitterten, es könnte Napoleon gelingen, der Revolution noch einmal Leben einzuhauchen. Die Volksmassen, die ihm in Frankreich zujubelten, hofften das sehnlichst und glaubten ihm, wenn er erklärte, er sei gekommen, um die „Prinzipien der Großen Revolution zu schützen.“ In der Tat ließ er eine liberale Verfassung ausarbeiten und durch Volksabstimmung beschließen. Er wurde bei Waterloo ein letztes Mal geschlagen, weil die französische Bourgeoisie längst konterrevolutionär geworden war, ihre einstigen Ideale verraten und den Kaiser fallen gelassen hatte. So steckte in dem, was Napoleon nach seiner letzten Niederlage sagte, viel Wahrheit: „Die Mächte führen nicht Krieg mit mir, sondern mit der Revolution. Sie haben in mir immer deren Vertreter, den Mann der Revolution gesehen“. Dementsprechend war die Abrechnung nach den „Hundert Tagen“. Der weiße Terror der Royalisten wütete besonders in Südfrankreich. In den Straßen von Marseille und Nimes wurden Bonapartisten und Soldaten getötet, in den Städten und Dörfern an der Mittelmeerküste Hunderte von Menschen umgebracht, in Avignon Marschall Brune ermordet, General La Bédoyère, Marschall Ney und andere hingerichtet, Morde und Exekutionen auch in zahlreichen anderen Départements. 4

Waterloo machte den Weg frei zur Fortsetzung der Restauration der gesellschaftlichen Verhältnisse in Europa. Die Völker, die für den Sieg ungeheure Opfer gebracht hatten, gingen leer aus. Gesellschaftlicher Fortschritt, der mit Napoleon Einzug gehalten hatte, stagnierte über mehrere Jahrzehnte. In Frankreich selbst gehörte zu den Folgen, dass die im Volk verhassten Bourbonen den Ausgleich zwischen Adel und Großbourgeoisie suchten, der die Feudalreaktion stärkte.

Wäre es für den Verlauf des Geschichtsprozesses günstiger gewesen, wenn Napoleon gesiegt, die europäischen Feudalreaktionen gestürzt und an ihrer Stelle die Bourgeoisie, wenn auch unter französischer Vorherrschaft, an die Macht gebracht hätte? Stimmen großer Geister dieser Zeit ließen vermuten, dass sie das besser gefunden hätten.

Heine sah den Triumph mit großer Skepsis. In seinem Nachlass steht: Bei Waterloo siegte „die schlechte Sache des verjährten Vorrechts’“. Napoleon vertrat – trotz aller Probleme – die „Sache der Revolution. Es war die Menschheit, welche zu Waterloo die Schlacht verloren“. 5 Aufschlussreich seine „Grenadiere“, die er dem Schicksal Napoleons widmete. Goethe sprach von der Ablösung der bürgerlichen Vorherrschaft Napoleons durch die feudale Vormacht des Zaren. Er sah in Napoleon einen „außerordentlichen Menschen“, sprach von der „Größe des Helden“, einem „Halbgott“. 6 Menschen aus dem Volk äußerten erschrocken, „der Adel hat gewonnen“. gewonnen“. Golo Mann schrieb vom „Lehrgang des Napoleonischen Zeitalters“, eines ersten konzentrierten Lehrganges dessen, „was im Lauf des 19. und 20. Jahrhunderts oft gelernt und repetiert werden musste“. Die „neuen Ideen“ hielt er nicht für erschöpft. „Sie waren nun da und mächtig und blieben mächtig.“ 7 Das bezeugt, dass die Napoleonzeit trotz aller Widersprüche, insgesamt ein großer Schritt vorwärts war, in der Epoche des Übergangs vom Feudalismus zum Kapitalismus.

Anmerkungen:

1 Helmut Bock: Napoleon und Preußen. Sieger ohne Sieg. Karl Dietz Verlag Berlin 2013

2 „Zur Geschichte der preußischen Bauern“, MEW, Bd. 21, Berlin/DDR 1962, S. 243.

3 Werke, Bd. 27, Berlin/DDR, S. 149). Lenins Einschätzung wird hier immer aus dem Zusammenhang heraus zitiert. Er bezog sich auf den Tilsiter Frieden, um die Zustimmung zum Abschluss des Brester Friedensvertrages zu erreichen.

4 Luciano Canfora: Eine kurze Geschichte der Demokratie, Köln 2006, S. 85 f.

5 Heinrich Heine, Aus dem Nachlass, in: Walter Vontier: Heinrich Heine, Berlin, Januar 1949, S. 175.

6 Zit. in Canfora, S. 11

7 Golo Mann: Deutsche Geschichte des 19. u. 20. Jahrhunderts. Frankfurt/Main 1958, S. 101.

Vorheriger ArtikelSchlichtweg unlogisch, der Wahrheit fern – Ein von Schizophrenie getragener Protest
Nächster ArtikelStreitkräfte des Staates Israel seien an der syrischen Front auf „jedes Szenario“ vorbereitet