Das dürfte im wesentlichen die finanzielle Ausstattung des Orchesters betreffen. Bereits im Februar hatte Zagrosek im Roten Salon der Grünen-Abgeordneten Alice Ströver geklagt, die Opern erhielten 20 Millionen Euro mehr, die Rundfunkorchester und -chöre GmbH sechs Millionen, er aber bekäme vom Senat nicht einmal 1,2 Millionen, um seine Musiker leistungsgerecht bezahlen zu können. Die besten Leute gingen nach München, Hamburg oder Köln, weil sie dort sofort 1000 Euro im Monat mehr haben. Deshalb hatte Zagrosek bereits zum 1.1.2009 gekündigt – gegangen ist er nicht. Zu seinem angekündigten endgültigen Rückzug sollten in der Jahrespressekonferenz des Konzerthausorchesters am Montag weitere Einzelheiten mitgeteilt werden.
Dazu kam es nicht. Stattdessen erklärte Zagrosek eingangs, der Kulturstaatssekretär Schmitz habe ihn zu einem Gespräch eingeladen und bis dahin habe man Stillschweigen vereinbart. Schmitz ´ eilfertiges Gesprächsangebot wird als durchsichtiges Manöver gewertet, eine Diskussion über Zagroseks Protest in der Pressekonferenz zu verhindern.
Das Problem Zagrosek ist im Prinzip das Problem verschleppter, unsozialer Lohnpolitik. Seit 2002 haben die Berliner Musiker, die dem Orchestertarif angeschlossen sind, keine Gehaltserhöhung erhalten. Schritt für Schritt verzichteten sie auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld. Nach jahrelangem Kampf um einen neuen Tarifvertrag ist eine Einigung bei der Anpassung an die Tarife im öffentlichen Dienst erreicht worden, den die Orchestergewerkschaft DOV für tragbar hält. Strittig ist noch immer die rückwirkende Gültigkeit für das tariflose Jahr 2008, der die Länder noch zustimmen müssen. Hauptbremser ist der Berliner Senat, der die Berliner Orchester gar nicht einbeziehen will. Der Regierende Bürgermeister Klaus Wowereit lehnt sogar Gespräche mit dem Arbeitgeberverband ab. Die Tariferhöhung allein beim Konzerthausorchester würde zwei Millionen im Jahr kosten. Für die anderen Orchester kann man die Summe in etwa verdreifachen. Der Schritt ist überfällig, aber dem rot-roten Senat ist die Teilhabe am Bankenrettungspaket wichtiger als eine verträgliche Entlohnung der Öffentlich Beschäftigten.
Die als Fortschritt gehandelte Anhebung der Einstufungszuschläge des Konzerthausorchesters auf das Niveau der Staatsoper ab 1. Juli ist für die Musiker erfreulich, aber eher eine Ablenkung vom grundsätzlichen Problem. Der Orchestervorstand Ernst-Burghard Hilse lässt durchblicken, sie sei dem Hauptsponsor Tengelmann zu verdanken. Diese »Ehe« rechneten sich Wowereit und Schmitz als Verdienst an, nun aber wird die Kehrseite sichtbar.
Was wie Cleverness aussieht, kann eine gefährliche Konfliktquelle sowohl für die Musiker des Konzerthausorchesters als auch für die Beschäftigten von Kaisers-Tengelmann werden. Die Tengelmann AG sponsert dem Konzerthausorchester seit 2009 jährlich eine halbe Million Euro. Davon gehen 440 000 Euro über den Programmetat in die Erhöhung des Einstufungszuschlags. Was die einen mehr bekommen, müssen die anderen für ihren Ausbeuter erarbeiten. Gerade die Beschäftigten des Einzelhandels führen einen unendlich zähen Kampf um jede noch so geringe Tariferhöhung. Statt der geforderten 6 Prozent erhalten sie in Berlin seit Juli 2008 ganze 2,5 Prozent mehr Gehalt.
Der Senat ist erst einmal fein raus: er hat keine Gehaltserhöhungen finanziert und keinen Präzedenzfall geschaffen, was Forderungen in anderen städtischen Einrichtungen nach sich ziehen könnte. Die Lösung mit Tengelmanns Hilfe ist sehr bequem. Und die Gewissensfrage, woher das Geld kommt, ist den Musikern aufgebürdet. Spekulationen über Meinungsverschiedenheiten oder gar Zerwürfnisse Zagroseks mit dem neuen Intendanten Sebastian Nordmann oder mit dem Orchester können den Verantwortlichen recht sein: sie lenken vom Problem der Finanzierung ab – oder sie sollen sollen das.
Die Durchsetzung von Zagroseks Forderungen hätte Konsequenzen, die ihm möglicherweise nicht bewusst waren. Er kann der Eisbrecher werden. Wenn er sich jedoch umstimmen lässt, kann Wowereit weiterhin jede Tariferhöhung verweigern. Das befreit ihn jedoch nicht von der Spannung, die aus der wachsenden Kluft zwischen dem Gehaltsniveau der Berliner Musiker und der anderen Musikzentren in Deutschland entsteht. Was unter anderem die Besetzung der Konzertmeister sowie der Solostellen erschwert. Im übrigen sind auch die Musiker vom Reallohnverlust bei steigenden Lebenshaltungskosten und stagnierenden oder sinkenden Gehältern genau so betroffen wie andere Arbeitnehmer. Irgendwann wird der Senat nachziehen müssen. Und dann wird es teurer. Und das trifft im wesentlichen auf alle Öffentlich Beschäftigten und die der Nachfolgeeinrichtungen zu.
Die Verschleppung durch den Senat gefährdet die künstlerische Qualität der Orchester. Zudem kann sie im großen Rahmen den sozialen Frieden in der Stadt erheblich stören. »Nachdenken« über Geldknappheit in Zeiten der Krise – wie die Berliner Zeitung meint – hilft da nicht. Es macht keinen satt.