Der Menschenstrom bahnt sich seinen Weg. Kanalisiert durch eine in den Felsen getriebene enge Spalte, die dem bloßen Auge auf den ersten Blick zunächst verborgen bleiben muss. Führt sie doch von einem Felsplateau schräg hinab in ein Felsmassiv, um dort irgendwo im Nirgendwo zu verschwinden. Alle Teilnehmer an diesem seltsamen Gänsemarsch sind gekleidet in strahlend weiße Tücher. Ihr konzentriert angespannter Gesichtsausdruck verrät etwas von der magischen Anziehungskraft ihres Zieles, zu dem es nun offenbar nicht mehr weit zu sein scheint.
Es ist das ersehnte Ende einer Pilgerfahrt, die in Addis Abeba, der Hauptstadt des Landes, begann. Biliya ist eine der Pilgerinnen, die es heute, wie sie sagt, zum ersten Mal bis zu diesem Ort geschafft hat. Als angehende Studentin der Elektrotechnik hat ihre Reise natürlich nichts zu tun mit ihrem angestrebten beruflichen Werdegang. Doch ist es schon seit vielen Jahren ihr größtes Herzensanliegen, endlich einmal dem in ganz Äthiopien legendären Wallfahrtsort Lalibela einen Besuch abzustatten. Vielleicht sogar um etwas einzufangen von dem Mythos, der dieses spirituelle Zentrum seit mehr als 7oo Jahren umgibt?
Spiritueller Höhepunkt
Der schmale Felsengang endet tief unten am Rand einer kleinen, sich unerwartet öffnenden quadratischen Ebene, die von vier steil aufragenden Felswänden aus Vulkangestein umgeben ist. Und mittendrin, in Form eines liegenden Kreuzes, endlich die ersehnte nach dem Heiligen Georg benannte Felsenkirche. Ein in der Tat ungewöhnliches Gebäude, das offenbar von oben her wie eine riesige architektonische Plastik vom umgebenden Felsgestein befreit wurde.
Fugenlos gearbeitet und, erstaunlich genug, bestehend nur aus einem einzigen Stück. Biliya hat es also geschafft. Ihr sehnlichster Wunsch, das zeigt ihr auf die Anspannung folgendes befreites Lächeln, ist heute für sie in Erfüllung gegangen. Mit dem von ihr erhofften spirituellen Höhepunkt in ihrem bisherigen Leben.
Mit Hammer und Meißel
Dabei ist die St. Georgskirche nur eines von insgesamt elf Bauwerken. Sie allesamt im Auftrag von König Lalibela als architektonische Wunderwerke konzipiert und in den Fels getrieben. Von 5000 Arbeitern, lediglich ausgerüstet mit Hammer und Meißel, und dazu in einer Rekordzeit von nur 23 Jahren. Manche der Bauwerke frei stehend wie die St. Georgskirche. Andere wiederum angelehnt an eine Felswand oder aber, von außen nahezu unsichtbar, als Höhlenkirche im Inneren des Felsmassivs. Insgesamt ein riesiger kaum zu überblickender Komplex, die einzelnen Teile stellenweise nur verbunden durch stockfinstere in das Felsgestein hinein getriebene Durchgänge.
Hat aber nicht gerade diese Unübersichtlichkeit auch System? Davon zeigt sich Lalibela-Kenner Abay fest überzeugt, der seine Erklärung aus den historischen Umständen jener Zeit ableitet. Denn nach der Eroberung Nordafrikas durch den Islam war die Gefahr für den Osten des Kontinents auch in den späteren Jahrhunderten noch nicht gebannt. So galt es, die orthodoxe Christenheit dieser Region zu schützen vor einer möglichen muslimischen Herausforderung. Und doch muss Abay gestehen, dass dies als alleiniger Erklärungsgrund für die Entstehung des Lalibela-Komplexes nicht ausreicht.
„Neues Jerusalem“
Denn von Anfang an spielte im Christentum dieser Region eine biblische Betrachtungsweise eine Rolle, die sich schon bald zu einem Mythos verdichten sollte. Es war die inhaltliche Gleichsetzung eines Flusses, der sich hier mühsam seinen Weg durch die Felsenlandschaft sucht, mit dem Jordan des Heiligen Landes. Und folglich gelangte Lalibela in der Folgezeit in den Rang eines „neuen Jerusalems“. Und damit zu einem der heiligsten Orte der Weltgeschichte, der in der Vorstellungswelt der damaligen Zeit dem biblisch erhofften „himmlische Jerusalem“ recht nahe kam.
So auch noch heute. Zumindest im Empfinden von Priester Wodaynew in der St. Georgskirche, für den bei seiner Berufswahl eine persönliche Berufung ausschlaggebend war: „Gott gab mir dazu die Erlaubnis“, gesteht er bescheiden. Und so ist seine Anwesenheit an diesem ausgefallenen Ort für ihn „wie im Traum“. Ein überhöhendes Gefühl „über Jerusalem hinausgehend fast schon wie im Himmel“.
Orthodoxer Festkalender
Und sicherlich kann sich Studentin Biliya heute ein wenig mit ihm identifizieren, wenn sie Priester Wodaynew nun gleich persönlich kennenlernen wird. Denn sie ist im Unterschied zum anderswo auf der Welt vorherrschenden kritischen Zeitgeist offensichtlich noch fest verankert in der christlichen Tradition ihres Landes. Ihrem Glauben scheint sie, darauf lässt ihr Engagement im Gespräch schließen, ihr tägliches Leben unterzuordnen. Vielleicht sogar aus Dankbarkeit? Denn „Gott hat eine Menge für uns getan“, lautet ihr Schlusssatz, bevor sie sich erneut dem Pilgerzug zum Eingang der St. Georgskirche anschließt.
Dort herrscht nun ein ähnlicher Andrang wie am darauf folgenden Tag in aller Herrgottsfrühe vor der Imanuelkirche. Ebenfalls vergleichbar einem riesigen Felsblock, herausgehauen aus den ihn umgebenden Felswänden. Zwar ein normaler Wochentag, nicht jedoch im orthodoxen Festkalender, in dem der „Imanueltag“ hoch veranschlagt wird. Wird doch zu diesem Anlass die Person Jesu in wörtlicher Übersetzung als „Gott mit uns“ gedeutet, ein theologischer Sachverhalt, den es nach Auffassung der Orthodoxie in der Tat zu feiern gilt. Ein kleiner Felsendurchgang gewährt den Zutritt zum Kirchengebäude, dessen leicht verzierte Felsfassaden den Klang einer schwer einzuschätzenden Geräuschkulisse reflektieren.
Ansätze von Ekstase
Es sind die zunächst monoton erklingenden liturgischen Gesänge der gesamten Priesterschaft von Lalibela. Sie alle gruppiert um ihren spirituellen Leiter, der in seinem auffälligen braunen Gewand mit wachsamen Blicken das Geschehen im Auge behält. Dieses steigert sich zu Schreitbewegungen, bei denen sich Reihen weiß gewandeter Priester mit anschwellenden frommen Gesängen aufeinander zu bewegen und sich umgehend wieder voneinander entfernen. Bis hin zu den an diesem Ort nicht erwarteten Ansätzen religiöser Ekstase, der unüberhörbare Trommelschläge jedoch einen akustischen Rahmen verleihen.
Insgesamt ein sich über mehrere Stunden hinziehender religiöser Ablauf, der gegen Ende hin sogar noch mit seiner zur Schau gestellten Farbigkeit in Erstaunen versetzt. Und lange muss man darüber nachdenken, wo man denn zuletzt eine ähnlich dramatisch konzipierte Liturgie miterlebt hat. Und Zeuge wurde eines entsprechendes religiösen Lebensgefühls in seinen unterschiedlichen Facetten. Bei einem Szenario, das in dieser Ausgefallenheit womöglich zu einer Erklärung beitragen könnte, warum Äthiopien bis heute den am meisten religiösen Ländern des Christentums zugeordnet wird.
Reiseinformationen “Äthiopien”:
Anreise: Günstig mit Ethiopian Airlines, täglich direkt von Frankfurt nach Addis Abeba ab Euro 505; täglich Anschluss nach Lalibela ab insgesamt Euro 550; www.ethiopianairlines.com
Einreise: Es genügt ein noch mindestens 6 Monate gültiger Reisepass. Ein Visum wird bei der Ankunft ausgestellt.
Dabei anfallende Kosten: Euro 50 oder US-Dollar 50.
Reisezeit: Äthiopien kann grundsätzlich ganzjährig bereist werden. Die besten Reisemonate sind jedoch März – Juli sowie September – Dezember. Im Juli/August kann es sehr heiß werden und die Monate Januar/Februar sollte man im Vergleich ganz meiden.
Reiseveranstalter: Zu den bewährten Reiseveranstaltern nach Äthiopien zählt DIAMIR-Erlebnisreisen, Tel. 0351-312077, info@diamir.de, www.diamir.de