Mit dem Sieg in Dien Bien Phu endete vor 70 Jahren der 8-jährige Befreiungskrieg in Vietnam gegen die Wiedererrichtung der französischen Kolonialherrschaft

Französische Infanteristen in ihren Gräben bei Điện Biên Phủ. Foto: unbekannter Autor

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Seit dem 11. März 1954 tobte in Dien Bien Phu die letzte Schlacht im 8-jährigem Befreiungskampf der Sozialistischen Republik Vietnam gegen Frankreich, das seine in der Augustrevolution 1945 gestürzte Kolonialmacht wieder errichten wollte. Dien Bien Phu lag in einem Talkessel von etwa 18 km Länge und acht km Breite und war von steil aufragenden über 1.500 Meter hohen Bergen umgeben.

Eine waffenstarrende Dschungelfestung

Den Talkessel hatte der französische Oberkommandierende in Vietnam, General de Corps d´Armee, Henri Navarre, zu einer waffenstarrenden Dschungelfestung samt Militärflugplatz mit mehreren Landebahnen ausbauen lassen. Das Zentrum mit der Kommandozentrale war von einem Gürtel mit auf sechs Hügeln liegenden selbständigen Stützpunkten umgeben. Im Vorfeld der Festung befanden sich Außenforts. Alle trugen französische Mädchennamen. Zwischen den Stützpunkten lagen weitere Stellungen mit schwerer Artillerie, die sich gegenseitig durch Feuer unterstützen konnten.

Die Angreifer erwarteten Stacheldrahtverhaue und Minenfelder, Napalmbehälter mit elektrischer Zündung. Die Festungsbesatzung zählte vier Infanterieregimenter, 100 gepanzerte Fahrzeuge, insgesamt 16.000 Mann. Es waren durchweg Kriegserfahrene Kolonialbataillone, darunter fast die Hälfte Fallschirmjäger und viele Fremdenlegionäre, von denen nicht wenige während des Zweiten Weltkrieges der deutschen Waffen-SS-Division „Charlemagne“ oder der „Legion des Volontaires Francais contre le Bolchevisme“ angehört hatten. Während der Schlacht wurde die Besatzung durch etwa 170 Kampfflugzeuge unterstützt, die mit Napalm, Bomben und Bordwaffen die Stellungen der Vietnamesischen Volksarmee (VVA) angriffen. Kommandant der Festung war der Oberst der Panzertruppen mit dem langen Namen Christian Marie Ferdinand de la Croix de Castries. Wie Navarre stand auch er im Ruf, ein Kolonialkriegserfahrener Kommandeur zu sein.

Zur Feldschlacht provozieren

Navarre wollte den Befehlshaber der VVA, Vo Nguyen Giap, in Dien Bien Phu zur Entscheidungsschlacht provozieren und ihn vernichtend schlagen. Anders als Navarre sie auf seinen Generalsstabskarten konzipiert hatte, wurde sie für die Franzosen zur Kesselschlacht, die zur Niederlage Frankreichs in Vietnam und damit in ganz Indochina führte. Navarre hatte die Volksarmee und ihren talentierten Feldherrn Giap völlige unterschätzt. Giap marschierte vor Dien Bien Phu, was die französische Aufklärung nicht bemerkt hatte, nicht nur in ausreichender Zahl mit schwerer Artillerie, Feldhaubitzen und Kanonen 7,5, 10,5 und sogar 15,5 Zentimeter, und der Zeit entsprechender Flak und Rückstoßfreien Geschütze auf, sondern wusste auch, sie meisterhaft in Stellung zu bringen. Die Vietnamesen transportierten die schweren Geschütze, was man im französischen Stab für unmöglich gehalten hatte, ohne Zugmittel über die zerklüfteten Berge und brachten sie gegenüber der Festung in Höhlen in Stellung. Jedes dieser schweren Geschütze wog über zwei Tonnen. Sie wurden in Einzelteile zerlegt über die Berge geschafft, in den Berghängen gegenüber der Festung dann Dutzende Meter tief samt Munition in die Felshänge eingegraben.

Die Schlacht von Dien Bien Phu ist später gelegentlich in zwar hinkenden, aber nicht ganz unberechtigten Vergleichen als ein kleines Stalingrad bezeichnet worden. Denn in der Endphase der Schlacht war Navarre nicht mehr in der Lage, die eingeschlossene Festung auch nur minimal mit Nachschub zu versorgen. Das ergab sich vor allem daraus, dass die vietnamesische Flak, mit der überhaupt nicht gerechnet worden war, die meisten Transportmaschinen vom Himmel holte. Und das, obwohl viele der eingesetzten amerikanischen B 26 von Air Force-Piloten mit Koreaerfahrung geflogen wurden.

Für den Angriff auf die Festung konzentrierte Giap zwei Infanteriedivision, drei selbständige Regimenter, zwei Abteilungen 10,5 Zentimeter Haubitzen und zwei weitere Abteilungen 7,5 Zentimeter Kanonen, dazu ein Flak- und ein Pionierregiment. Insgesamt zirka 35.000 Mann. Für die Versorgung und den Transport der schweren Technik standen der VVA noch Zehntausende Helfer aus der Bevölkerung zur Seite.

Eine Atombombe auf Ho Chi Minhs rückwärtige Gebiete!

Mit Beginn des Angriffs auf die Festungsanlagen am 13. März nahm die Volksarmee binnen einer Woche alle vier Außenforts und den ersten der sechs zentralen Stützpunkte ein. Angesichts dieser Lage empfing in Paris Verteidigungsminister Pleven den Chef des Generalstabes, Paul Ely, am 19. März zur Besprechung über die Lage in der Festung und beauftragte ihn, nach Washington zu fliegen, um eine „entscheidende Aufstockung“ der USA-Hilfe auszuhandeln. „Wir werden Dien Bien Phu verlieren und ganz Indochina, wenn die Amerikaner nicht eingreifen. Wir schaffen es nicht allein“, fasste der Minister zum Ende der Besprechung zusammen. Auf die Frage des Generalstabschefs, was unter „entscheidender Aufstockung“ zu verstehen ist, antwortet Pleven: „Nicht mehr nur Munition und Flugzeuge. Ich meine Truppentransporter mit Infanterie, Artillerie, Fallschirmtruppen, B-29-Bomber. Ich meine alles. Einschließlich der Atombombe auf Ho Chi Minhs rückwärtige Gebiete!“

Als Ely am 20. März mit einer „Constellation“ in Washington eintraf, empfing ihn auf dem Flugplatz der Chef der Vereinigten Stabschefs, Admiral Radford. Ely wußte, dass ihn ein kompetenter Gesprächspartner erwartete. Der ranghohe Militär hat die 7. US-Flotte kommandiert, war engster Vertrauter McArthurs, des US-Oberbefehlshabers in Südkorea, und Eisenhowers Berater in Asienfragen. Der Amerikaner war bereits über das neueste Fiasko in Dien Bien Phu informiert, von dem Ely noch vor dem Abflug erfahren hat. Nach „Beatrice“ hat die Viet Minh auch die Stützpunkte „Gabrielle“ und „Anne-Marie“ erobert. Die nördlichen Befestigungen befanden sich damit bis auf 2 restliche Stützpunkte völlig in der Hand der Volksarmee. Fast alle Offiziere waren gefallen oder in Gefangenschaft geraten. 200 Thai-Söldner hatten sich ergeben. Zur Verstärkung war aus Hanoi das 6. Fallschirmjägerbataillon angeflogen worden. Es erlitt jedoch so starke Verluste, dass es kaum noch Kampfwert besaß. Am schockierendsten war, dass der Kommandeur der Festungsartillerie, Oberst Piroth, sich in seinem Bunker mit einer Handgranate in die Luft gesprengt hatte.

Beim Remy Martin, den Bradford zuvorkommend statt Whiskey anbot, kam man rasch zum Thema. Bradford gehörte zu den Hardlinern im Pentagon. Nach dem Eingreifen der Chinesen in Korea hatte er dafür plädiert, über der Mandschurei ein paar Atombomben aus zu klinken und über die chinesischen Häfen eine Totalblockade zu verhängen. Eisenhower, selbst Militär, der im November 1952 für die Republikaner die Wahlen gewonnen hatte, wollte ein derartiges Risiko, das Moskau auf den Plan rufen konnte, nicht eingehen. Auch jetzt befürchteten Regierungskreise, so Radford, „eine massive Aufstockung“ der amerikanische Hilfe in Indochina könnte dort, ähnlich wie vorher in Korea, zum Eingreifen der Chinesen führen.

Radford war ein geschickter Verhandlungspartner und so hatte er nicht nur Bedenken vorzubringen. Die Amerikaner waren in Erwartung des Besuchs und der französischen Wünsche nicht ganz untätig geblieben. Noch bevor Ely in Washington gelandet war, hatten C-119 der Air Force begonnen, Napalm auf die Belagerer von Dien Bien Phu abzuwerfen. Jede der Maschinen transportierte etwa sechs Tonnen. Es waren Restbestände aus dem Korea-Krieg, die jetzt verbraucht wurden und sie kosteten die Franzosen natürlich gute Dollars. Der Gastgeber deutete schließlich an, dass er dafür wäre, in Indochina den „großen Knüppel“ anzuwenden, worunter Politiker den Einsatz der Atombombe verstanden. Unter der Codebezeichnung „Volture“ liefen dazu auch bereits Planungen. Voraussetzung, einer Operation „Geier“ konkrete Gestalt zu geben, sei ein “offizielles Ersuchen“ der französischen Regierung.

Eisenhower: Sollen die Franzosen sich ruhig verschleißen.

Am nächsten Tag wurde Ely von Eisenhower empfangen, der zuvor die drei Stabschefs konsultiert hatte. General Ridgway, hatte sich gegen ein stärkeres Engagement in Vietnam ausgesprochen. Er war nach McArthur der letzte Oberkommandierende in Korea gewesen und meinte darauf anspielend, ein massiver Einsatz der US-Air Force und der Marine würde „keine entscheidende Wende mehr bringen“. „Volture“ wurde nicht erörtert. Eisenhower war zufrieden, dass sein ohnehin fest stehender Entschluss Zustimmung fand. Die Franzosen sollten sich in Indochina ruhig verschleißen. Vietnam würde dann zu einer leichten Beute der USA werden. Er hütete sich, gegenüber Ely auch nur andeutungsweise anklingen zu lassen, dass die Franzosen sich mit ihrer Niederlage abfinden müssten. Das sollte Außenminister Foster Dulles ihnen beibringen. Er erwähnte nochmals das begonnene Bombardement durch die C-119 und wies den anwesenden Bradford an, den Einsatz von B-26 mit US-Piloten im Gebiet von Dien Bien Phu zu verstärken, ebenso die Hilfslieferungen an Waffen und Nachschub zu erhöhen und zwar „bis zu der von unseren französischen Verbündeten gewünschten Grenze“. Es könnte nicht schaden, wenn die Air Force-Piloten, noch einige Erfahrungen sammelten, bevor dieser französische Krieg zu Ende geht, dachte der Präsident im Stillen für sich.

Ely flog zufrieden nach Paris zurück. Doch die Lage in Dien Bien Phu hatte sich weiter drastisch verschlechtert. Die Stützpunkte „Eliane“ und Dominque“ waren nach schweren Kämpfen bis auf einige Widerstandsnester gefallen. Wann der letzte Stützpunkt „Huguette“ mit dem Flugplatz dieses Schicksal teilen würde, war nur noch eine Frage von Tagen. Landungen waren dann nicht mehr möglich und der Abwurf von Lastenfallschirmen immer riskanter, denn die Viet Minh-Flak beherrschte inzwischen den ganzen Talkessel. Schneller als in Washington erwartet übermittelte die französische Regierung Präsident Eisenhower ihre Bitte, unverzüglich die Operation „Geier“ auszulösen. Die Amerikaner mussten nun Farbe bekennen und schoben dazu als Sündenbock Churchill vor, dessen Zustimmung erforderlich sei. Churchill aber lehne ab.

Der tiefere Hintergrund war, dass Washington das Risiko eines Atomwaffeneinsatzes für Frankreich nicht eingehen wollte. Als ihre eigene militärische Situation Ende der 60er Jahre in Vietnam immer auswegloser wurde, erwogen die Pentagon-Militärs durchaus, kleine Atomwaffen gegen Nordvietnam und auch gegen die FNL in Südvietnam einzusetzen. Lediglich die Gegenschlagkapazitäten der UdSSR sorgten dafür, dass die Politiker dem nicht zustimmten.

Erbitterte Nahkämpfe um jeden Bunker

In Dien Bien Phu näherte das letzte blutige Kapitel des französischen Kolonialkrieges in Vietnam seinem Ende. Schilderungen über die Kesselschlacht haben hin und wieder den Eindruck erweckt, die Festung sei Giap nach Monate langer Belagerung wie eine reife Frucht in den Schoß gefallen, es habe keiner großen Anstrengungen bedurft, sie schließlich einzunehmen. Das entsprach mitnichten der Realität. Vor den letzten Befestigungen mussten die Angreifer drei bis fünf Km Gelände überwinden. Giap wandte nun klassische Methoden genau des Stellungskriegs an, die aus dem Ersten Weltkrieg in Frankreich bekannt waren, von denen man nie gedacht hatte, die Vietnamesen würden sie überhaupt kennen, geschweige denn nun beherrschen. In Laufgräben arbeiteten sie sich Meter um Meter an die Stützpunkte heran. Dabei lagen sie unter dem Feuer der Artillerie und der Infanteriewaffen des Gegners. Sie standen den Franzosen dann oft so dicht gegenüber, dass Scharfschützen beider Seiten bereit lagen und oft zum Schuß kamen.

Über Megaphone forderte die Viet Minh die Kolonialsoldaten, unter ihnen viele Fremdenlegionäre algerischer und marokkanischer Herkunft, zur Kapitulation auf. Obwohl Gefangenen der Status der Genfer Konvention nicht zustand, da Frankreich die Viet Minh nicht als kriegführende Seite anerkannt hatte, wurde allen Angehörigen der Kolonialarmee zugesichert, dass sie als Gefangene gemäß der Konvention behandelt und nach der Aufnahme von Verhandlungen und der Vereinbarung eines Waffenstillstands in ihre Heimat entlassen werden. Doch nur 140 Kolonialsoldaten folgen während der letzten Kämpfe bis Ende April den Aufrufen. Die französische Gräuelpropaganda, die Viet Minh mache keine Gefangenen, trug Früchte. Die meisten Kolonialsoldaten setzten sich verbissen zur Wehr. Bei der Eroberung der einzelnen Stellungen kam es zu erbitterten, auch für die Volksarmee verlustreichen Nahkämpfen. Einzelne strategisch beherrschende Abschnitte wechseln mehrfach den Besitz.

Dabei zeugt von der humanen Haltung der Volksarmee, dass Giap den Chef des Sanitätswesens der VVA, Prof. Ton That Tung, persönlich anwies, alle Vorkehrungen zu treffen, um die hohe Zahl der zu erwartenden verwundeten und kranken Franzosen in Gefangenschaft sofort zu behandeln. Über die in den eroberten Stützpunkten und Stellungen vorgefundenen toten Franzosen wurden Listen angefertigt: Name, Nationalität, Heimatanschrift, Dienstnummer auf den Blechmarken und der Ort an dem sie begraben wurden. Auch diese Order erging von Giap persönlich. Dazu hieß es, es seien Menschen, die zu Hause Familien haben, Eltern, Frauen, Kinder, die ein Recht darauf hätten, später zu erfahren, wo ihr Söhne, ihre Männer, ihre Väter gestorben sind. Welche Menschlichkeit bewiesen die vietnamesischen Freiheitskämpfer den Soldaten der Kolonialisten, die ihr Volk jahrzehntelang unterjocht, blutig unterdrückt und grausam misshandelt hatten.

Seit Anfang April konnten keine Transportflugzeuge mehr in Dien Bien Phu landen. Viele der mit Nachschubcontainern anfliegenden Maschinen, meist amerikanische B 26, wurden abgeschossen oder zum Abdrehen gezwungen. Insgesamt zerstörten vietnamesische Flak in der Luft oder Artillerie auf den Pisten 62 Flugzeuge völlig und beschädigen 167. Zwischen den noch existierenden Stellungen bestanden keine zusammenhängenden Frontlinien mehr. Zum Kommandobunker de Castries trieben Pioniere der Volksarmee hangaufwärts unterirdische Gräben vor.

In der Festung fehlte es an allem: die Artilleriegranaten gingen zur Neige, die verbliebenen Panzer waren ohne Treibstoff, die Verpflegung wurde knapp, es fehlten Verbandsmaterial, Morphium, Antibiotika. Oberstabsarzt Grauwin ließ stündlich die Reihen der am Boden liegenden Schwerverwundeten nach Verstorbenen absuchen. Sein viel zu geringes Sanitätspersonal hatte der Kommandant durch die Prostituierten des Feldbordells verstärken lassen. Mit Lastfallschirmen abgeworfene Nachschubcontainer fielen meist in die Hände der Volksarmee. Dabei hatte Navarre seinem Festungskommandanten versprochen, täglich 150 Tonnen Nachschub einzufliegen oder per Fallschirm zu landen. Von den rund 10.000 Soldaten, welche die Besatzung noch zählte, waren nur noch knapp die Hälfte kampffähig, die anderen verwundet. Gerüchte sollten die Besatzung zum Ausharren anspornen. Von Laos aus rücke ein starkes Truppenkontingent an, um die Viet Minh in die Flucht zu schlagen. Andere Parolen sprachen vom Eingreifen der Amerikaner, oder gar vom Einsatz von Atombomben.

Beförderung vor der Kapitulation

Auch das ist gern mit Stalingrad verglichen worden, wo Generaloberst Paulus vor der Kapitulation zum Generalfeldmarschall befördert wurde. Sicher auch hier nochmals ein hinkender Vergleich. Doch in Paris verfiel man, um den Mythos von der heldenhaft kämpfenden Besatzung in Dien Bien Phu hochzuhalten, auch auf die Idee, Oberst de Castries zum Brigadegeneral zu befördern. Während der Kommandant am 15. April seine Ernennung per Funkspruch erhielt, wurden er und seine Besatzung in einem Tagesbefehl an die gesamte französische Armee als „leuchtende Beispiele“ der Verteidigung der „Ehre Frankreichs“ genannt. Mit einem Fallschirm wurden über dem Gefechtsstand die neuen Schulterstücke abgeworfen, aber auch dieser „Nachschub“ fiel in die Hände der Vietnamesen. Bei der Beförderungsfeier wollte unter den Offizieren keine Stimmung aufkommen, was nicht nur daran lag, dass kein Cognac mehr vorhanden war.

Am 1. Mai nahm die VVA die letzten Stellungen ein. Das französische Kommando in Hanoi regte nun einen Ausbruchsversuch an. Doch de Castries und sein Stab wussten, dass das ein selbstmörderisches Unterfangen gewesen wäre. Der Belagerungsring, den die Volksarmee inzwischen um den Rest der Festung gezogen hatte, war nicht zu durchbrechen. Der Oberkommandierende Navarre ließ den Kommandanten nun wissen: „Ein französischer Offizier ergibt sich diesen Kerlen nicht, er hört schlimmsten Falls auf zu kämpfen.“ Danach verfuhr de Castries nun. Am 6. Mai befahl er, alle der Geheimhaltung unterliegenden Dokumente zu verbrennen. Sein Stabschef ließ im Lazarett ein Bettenlakengroßes weißes Tuch anfertigen.

Ein schneeweißes Bettlaken auf De Castries Bunker

Am 7. Mai übermittelt er an die noch über Funk zu erreichenden Einheiten, die Waffen unbrauchbar zu machen und bei weiteren Angriffen keinen Widerstand mehr zu leisten. Das Wort Kapitulation fiel nicht, aber alle verstanden, was gemeint war. Über den letzten Stellungen und vielen Erdlöchern im Zentrum erschienen weiße Fähnchen. Am Nachmittag ging auf Widerstandsnester, aus denen noch geschossen wurde, eine letzte Salve der vietnamesischen Artillerie nieder. Dann stürmen die Soldaten, ohne noch auf Widerstand zu stoßen, zum Bunker de Castries vor, auf dem bereits das große schneeweiße Bettlaken lag. Der General hatte sich, bevor er sich ergab, gewaschen, rasiert und eine neue Uniform angelegt. Ein vietnamesischer Zugführer nahm ihn mit seinen Offizieren gefangen. Auf dem Bunker wurde die rote Fahne mit dem Gelben Stern aufgezogen.

Inzwischen hatte sich bereits ein Offizier des Sanitätswesens der Volksarmee im Auftrag von Prof. Tung in das französische Lazarett begeben, wo sich Oberstabsarzt Grauwin und sein Personal bereits zum Marsch in die Gefangenschaft vorbereiteten. Er beauftragte ihn, seine Arbeit fortzusetzen und ordnete an, ihm, der über keinerlei Verbandszeug und Medikamente mehr verfügte, alles Erforderliche zu Verfügung zu stellen. In der Nacht scheiterte ein Ausbruchsversuch der Besatzung des letzten südlichen Stützpunktes „Isabelle“, die danach widerstandslos in Gefangenschaft ging.

Nach 55 Tagen war die Schlacht um Dien Bien Phu zu Ende. Die Niederlage läutete das Ende der französischen Kolonialherrschaft in Vietnam und in ganz Indochina ein. Auf französischer Seite kostete sie in Dien Bien Phu noch einmal etwa 2.200 Tote, auf vietnamesischer Seite rund 8.000. Von de Castries Soldaten traten 10.000 den Weg in die Gefangenschaft an. Zusammen waren an den Frontabschnitten in Vietnam und Laos im Winter 1953/Frühjahr 1954 112.000 Mann der Kolonialarmee außer Gefecht gesetzt worden. Insgesamt fielen während des Kolonialkrieges schätzungsweise 92.000 französische Soldaten. Zusammen mit Verwundeten und Gefangenen waren es, die Verluste der Marionettenarmee mitgerechnet, 466.172 Mann. Das Expeditionskorps verlor 599 Geschütze, 130.414 sonstige Waffen, 9.796 Fahrzeuge, 435 Flugzeuge, 337 Lokomotiven, 1.478 Eisenbahnwagen, 603 Flussschiffe und andere Wasserfahrzeuge. 1 Auf vietnamesischer Seite kamen über 800.000 Menschen um, ein großer Teil Zivilisten, die Vergeltungsaktionen und Bombardements zum Opfer fielen. Nach den Ursachen des Sieges befragt, erklärte Giap gegenüber „Le Monde“: „Rufen Sie sich die Französische Revolution in das Gedächtnis zurück, erinnern Sie sich an Valmy und die schlecht bewaffneten Soldaten gegenüber der preußischen Berufsarmee. Trotzdem siegten Ihre Soldaten. Um uns zu verstehen, denken Sie an diese historischen Stunden Ihres Volkes. Suchen Sie die Realität. Ein Volk, das für seine Unabhängigkeit kämpft, vollbringt legendäre Heldentaten.“

Anmerkungen:

Gerhard Feldbauer schrieb mit seiner Frau Irene „Sieg in Saigon, Erinnerungen an Vietnam“ (darunter das Kapitel Frankreichs Niederlage in Dien Bien Phu), Bonn 2006. 2. Auflage

1 Renate Wünsche/Diethelm Weidemann: Vietnam, Laos, Kampuchea, Berlin/DDR 1977, S. 90.

Anzeige:

Reisen aller Art, aber nicht von der Stange, sondern maßgeschneidert und mit Persönlichkeiten – auch Reisen durch Vietnam –, bietet Retroreisen an. Bei Retroreisen wird kein Etikettenschwindel betrieben, sondern die Begriffe Sustainability, Fair Travel und Slow Food werden großgeschrieben.

Vorheriger Artikel„Einschränkung der Redefreiheit in Europa als Faktor in der Krise der europäischen demokratischen Institutionen“ – Eine Diskussionsrunde in Wien
Nächster ArtikelPresseschau: Die Putschistin Swetlana Tichanowskaja