Zuerst ist da der Name. Irgendwie muss man an den melancholischen James Stewart denken, der in seiner Rolle als Freund besagten Harveys zu viel trank und philosophierte. Wie er ist Hoffman nicht der Jüngste und besitzt diesen betrübten Blick. Glänzend läuft es für Harvey Shine (Dustin Hoffman) in New York seit langem nicht mehr. Seinen Traum von einer Karriere als Jazzpianist konnte er nicht verwirklichen. Selbst seine Tätigkeit als Werbekomponist droht er zu verlieren. Auch seine familiären Angelegenheiten geben keinen Anlass zum Strahlen. Harveys Tochter Susan (Liane Balaban) lebt bei dessen Exfrau Maggie (Eileen Atkins) in England. Zu ihrem Stiefvater Brian (James Brolin) hat sie ein engeres Verhältnis als zu ihm. Seine Exfrau hat ihn nicht im Hochzeitshotel, sondern separat einquartiert und hat bei den Hochzeitsfeiern auch keinen Ehrenplatz. Er gehört nirgends dazu
Bei seinem vergeblichen Versuch, der Hochzeitsfeier durch seine angeblich plötzlich notwendige Rückreise nach Amerika zu entgegen, lernt Harvey die Engländerin Kate (Emma Thompson) kennen. Sie ist als einzige im Freundeskreis ohne Partner und wird ständig von ihrer überversorgenden Mutter angerufen und bemühten Freundinnen verkuppelt, was Kate noch einsamer macht. Eine menschliche Tyrannei. Beide erkennen, dass das Leben an ihnen vorbeirauscht und sie in ein Alter gekommen sind, wo man vom anderen Geschlecht kaum mehr wahrgenommen wird. Während eines zusammen verbrachten Tages keimt erst Sympathie, dann eine unsichere Liebe auf. Doch auf ihre echten Gefühle spontan zu reagieren, ist ihnen nicht geheuer. Beide müssen sich aber – jeder auf seine Art – entscheiden, ob sie miteinander die letzte Chance auf ein Leben zu zweit und damit auf ein anderes Leben ergreifen wollen.
Der deutsche Titel “Liebe auf den zweiten Blick” rückt den Film gefährlich nah an Schmachtfetzen wie “Message in a Bottle“ oder “Das Lächeln der Sterne“. Kategorie: zwei etablierte Stars der älteren Generation durchleben eine späte Romanze mit tränenreichem Ausgang. Ob letzte vor Glück oder Trauer vergossen werden, ist einerlei. Der Originaltitel erinnert eher an Werke wie “About Schmidt”. Im englischen Titel, vor allem aber in Hoffmans feinfühliger Darstellung klingt an, was für eine hervorragende Tragikkomödie “Last Chance Harvey” hätte sein können. Im Grunde geht es nicht um Liebe. Zumindest nicht dieses Konstrukt wahrer ewiger Liebe, wie es das Romantikkino kreiert hat. In dieses sichere Fahrwasser steuert Regisseur Joel Hopkins seinen Film inszenatorisch. Im Grunde geht es um die Grundsatzfrage, wie man leben sollte und was man dafür tut, dies Wirklichkeit werden zu lassen. Ob man Kompromisse eingehen kann und ob man mutig ist. So handelt das Drehbuch folgerichtig von verpassten Gelegenheiten. Und irgendwann ist man alt und muss feststellen, dass sich die Kinder von einem entfernt haben, man sein Leben lang einen unbefriedigenden Beruf ausgeübt hat und allein dasteht.
Darin liegt eine stumme Tragik, die umso trauriger ist, da ihr hochtrabende Dramatik fehlt. Bemitleidenswert ist die erste Assoziation bei einem solchen Schicksal. Und wer will das schon sein? So fühlt auch Harvey Shine, immer wieder ein Tollpatsch. Das Alarmetikett kann er nicht von seinem neuen Anzug zur Hochzeit entfernen, auf dem dekorativen Steinboden im Bankettsaal gerät er ins Schlingern und bei seiner Ansprache hat er nichts zu sagen. Hauptgrund für seine Trennung von Frau und Tochter war dieses Gefühl des permanenten Scheiterns. Die innere Betrübnis spüren er und Kate beim anderen. Dies führt sie zusammen und macht das Paar sympathischer, als die üblichen Leinwandpärchen.
Die Tragik von Kate kommt aus einer anderen Ecke. Einmal ist noch jünger, aber als Frau schon nicht mehr frisch genug auf dem üblichen Heiratsmarkt. Sie hat bisher aus mindestens zwei Gründen keinen Mann abbekommen. Der eine liegt in der Dominanz der Mutter, die sich hilflos stellt und der Tochter ein schlechtes Gewissen einredet, wenn diese nicht sekündlich zur Verfügung steht. Damit geht Kate unterschiedlich um. Zum einen entzieht sie sich diesem mütterlichen Überwachungsstaat, zum anderen bekommt sie dann prompt das schlechte Gewissen, das die Mutter ihr oktroyiert hat. Zum anderen hat sie ernsthafte Interesse wie Lesen und Theater und kann mit dem Geschwätz von Zeitgenossen in Kneipen einfach nichts anfangen. Sie erstarrt bei solchen Treffen buchstäblich, wird steif und formal.
Der Filmtitel bezieht sich nicht nur auf die umgangssprachliche Bedeutung, sondern auf die Situation, in der der aus Amerika eingeflogenen Harvey an einer Flughafenperson vorbeigeht und ablehnt, sich auf die erbetene Befragung zu seiner Zufriedenheit am Flughafen einzugehen. Es war Kate, die er im Regen stehen ließ. Aber als Harvey nun ganz am Ende ist, den rasch bestellten Flug nach New York verpasst hat, mit dem er die ihm telefonisch mitgeteilte Kündigung im persönlichen Gespräch rückgängig machen will und sich schon mit Alkohol getröstet hat, trifft er in der Flughafenbar Kate erneut, deren langweiliges und einsames Leben wir inzwischen erlebt haben, erkennt sie und entschuldigt sich bei ihr für seine rüde Abfertigung den Tag zuvor. Ab diesem Moment verwickeln die beiden Hauptdarsteller den Zuschauer in Komplizen, die sich ganz deutlich wünschen, dass aus diesen jeweiligen Käuzen doch ein Paar werde, denn irgendwie passen sie gut zusammen, gerade weil sie aus ganz anderen Leben kommen, aber jeder das mitbringen könnte, was dem anderen fehlt und sie gemeinsam einen Sinn für trockenen Humor teilen.
Dabei wird Kate, die sich sonst allem entziehen möchte, genau: um ihr Buch weiterlesen und ihre Literaturkurse besuchen zu können, gerade diejenige, die Harvey, der längst seinen Frieden mit dem Versagerleben gemacht hatte und deshalb auch der Hochzeitsfeier der Tochter fernbleiben will, anstachelt, so leicht nicht aufzugeben und auf jeden Fall zur Feier zu erscheinen. Nur mit ihr, entgegnet dieser, und nach einem Modebummel darf Emma Thomson auch eher als die attraktive Frau erscheinen, die sie ist. Beide machen als Paar Furore bei der Hochzeit und schließlich ist selbst seine Tochter ganz stolz auf ihn, ihren leiblichen Vater. Und dieser ist stolz, als nun auch noch sein Arbeitgeber ihn sofort mit besseren Konditionen in Amerika weiterbeschäftigen will, zu kündigen, denn sein Leben wird er in London fortsetzen, wenn möglich mit Kate.
Bei ihrer ersten Unterhaltung – jenem lakonischen Schlagabtausch darüber, wer den beschisseneren Tag hatte – liest Kate einen Roman. Dass wird sie auch nicht besser trösten, bemerkt Harvey. Im Begriff, seinen Kummer im Alkohol zu ertränken, vergleicht er sentimentale Liebesgeschichten mit billigem Fusel. Als Seelentröster sind beide gleichermaßen ungeeignet, da sie Probleme nur verdrängen helfen. Wenn aber nichts anderes zur Hand und man in der angemessenen Stimmung ist, kann es ganz nett sein. So verhält es sich mit “Liebe auf den zweiten Blick”. Das Schauspielerduo Hoffman und Thompson trösten über einige Konventionalitäten und Geschlechterklischees hinweg. Beide zeigen, dass sie ihr schauspielerisches Pulver noch lange nicht verschossen haben und als Zuschauer kann man nur hoffen, sie bald in Großproduktionen wieder auf der Leinwand zu sehen.
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Titel: Liebe auf den zweiten Blick
Originaltitel: Last Chance Harvey
Kinostart: 16. April 2009
Regie und Drehbuch: Joel Hopkins
Darsteller: Emma Thompson, Dustin Hoffmann, Kathy Baker, James Brolin
Verleih: Concorde
Laufzeit: 93 Minuten
FSK: Ohne Altersbeschränkung
Internet: www.lastchanceharvey.com