Als HB im Jahre 2001 anläßlich der Herausgabe seines Buches »Männer sind auch Menschen« erklärte, dass er sich nunmehr zurückziehen und nicht mehr zeichnen wolle, hatte er 21.523 Zeichnungen gefertigt. Sein Pensum: mindestens 3 jeden Tag. Die meisten seiner Ein- und Ausfälle sind in 30 Bänden konserviert, vorwiegend herausgegeben vom Eulenspiegel Verlag. Im Blätterwald aber tummelt sich längst eine neue Generation: meist laut, grell, direkt und oftmals »ordinär« (OT Henry Büttner). Für hintersinnigen Humor scheint kein Platz mehr zu sein.
Ohnehin blättert der Leser längst weniger, er scrollt und schlägt nach bei Wikipedia. Anfang Oktober, der 85. Geburtstag Henry Büttners stand ins Haus, tippte ich seinen Namen ein. Plong: Mein Mac präsentierte einen deutlich jüngeren, wohlgenährten Mann, der in einen blau-roten Overal und einen futuristischen Rennwagen eingeklemmt war: Henry Büttner vom Racing Team Leipzig/Germany. Es folgten zwei Seiten Nachrichten über den Raser, seine Rolle und Bedeutung als einziger bedeutender ostdeutscher Rennfahrer, unterbrochen von Werbung für Henry-Büttner-Schanksysteme – Zapfsäulen mit geringen Schankverlusten dank Schaumstoppersensoren – und Amazon-Rat: Henry Büttner gebraucht kaufen! Damit kamen wir dem Mann aus Wittgensdorf näher. Die eigentliche Auskunft der Webseite war karg.
In diesem Zusammenhang eine Überraschung: die »Realabschlußprüfung 1999 im Fach Deutsch«. Demnach ist den Prüflingen seinerzeit eine Büttnerzeichnung präsentiert worden. Zu sehen sind ein Schäfer und seine Herde, die sich auf einem mehrstufigen Podest ordentlich aufgebaut haben. Nur in der obersten Reihe dreht ein Viech dem Fotografen den Rücken zu – ein schwarzes Schaf. Die Schüler waren aufgefordert, den Cartoon zu beschreiben und »Vermutungen über die Aussageabsichten des Zeichners abzuleiten«. Weiter heißt es: »Erörtern Sie die Problematik kontrovers. Ziehen Sie Ihre Beobachtungen und Erfahrungen heran.« So etwas ist dem DDR-Volksbildungsministerium nie eingefallen.
Apropos Einfälle. Wer in diesen Tagen Henry Büttner googelt, kann sehen, daß der Browser immer auf der Höhe der Zeit ist: Das Satiricum Greiz hat ein Büttnerzimmer installiert und läßt dort 45 Zeichnungen gucken. Mehrere Zeitungen bringen eine Meldung. Auch im Kultur- und Heimatverein Wittgensdorf ist eine Ausstellung »mit Werken des größten Sohnes des Ortes« zu sehen. Der Einladung zur Eröffnung ist der Ehrengast nicht gefolgt, aber ein Foto von sich hat er geschickt. mdr kulturradio hat ein Feature produziert, das auch rbb kultur ausgestrahlte. Aus Anlass und zu Ehren wurden HB weitere Beiträge gewidmet – vorwiegend in regionalen Zeitungen. Nun ja – Büttner ist nur ein ostdeutscher Klassiker der Karikatur (H.-D. Schütt im ND). Andere Autoren konstatieren, er sei ein zeitloser Künstler, ein Strichkünstler, der Meister des kargen Strichs, der leisen Satire, des melancholischen Humors, der Aristokrat aus Wittgensdorf, der Philosoph, ja – der Kafka unter den Karikaturisten.
Biographisches, die Anekdote vom Auto, mit dem Büttner nur in die Garage, aber nie wieder herausgefahren ist, die Aufzählung seiner Lieblingsbücher (Thomas Mann, Musil, Dostojewski), die Tatsache, daß er auch biblische Texte, zum Beispiel das Lukasevangelium, illustriert hat, sowie Vermutungen, ob und was Henry Büttner sich beim Zeichnen gedacht habe, schreiben die Kollegen munter voneinander ab. Denn gewiß ist nur: Da bei Büttner »ein Reisebedürfnis nicht vorhanden ist« und er sich mit sich allein wohlfühlt, sind ihm nur wenige Leute näher gekommen. Ich weiß ganz genau das: Büttner war der ideale Mitarbeiter eines Redakteurs – konkret: einer Eulenspiegel-Redakteurin. Wir verständigten uns gelegentlich telefonisch über Vorhaben der Redaktion, haben auch zweimal miteinander Kaffee getrunken. Daher kann ich die landläufigen Vermutungen bestätigen, dass er aussieht wie sein berühmter Mann mit dem Hut. Nur humorvoller. Es sahen und sehen – nach meiner langjährigen Beobachtung – auch andere Karikaturisten ihren Figuren ziemlich ähnlich. Ein Forschungsthema für »Fachexperten«?
Im übrigen schickte Büttner pünktlich zum Monatsende ein mehr oder minder dickes Kuvert – ohne Absender, soviel Sicherheit sollte sein – mit Zeichnungen auf ordentlichen Blättern, auf den Rückseiten irgendwelcher für ihn unwesentlichen Papiere, auf der Pappe eines Schuhkartons. Wir wählten aus, ich schickte Überzähliges und Gedrucktes zurück. Alle waren zufrieden. Oder auch nicht. Dann lag der nächsten Sendung ein Briefchen bei: »Die Kniffe in meinen Zeichnungen sind darauf zurückzuführen, dass vor meinem Haus ein kleiner Briefkasten ist, während ein großer Briefkasten weit entfernt ist.« Alles klar. Oder – in revolutionärer Zeit – »Mein Eingehen auf Hochaktuelles ist nur vorübergehend.« Schade. Denn das zeichnete nur Henry Büttner: Einen Demonstranten, der in der Montags-Demo ein Plakat hochhält »Reinemachefrau gesucht«. Oder einen anderen, der kundtut: »Ich demonstriere mit behördlicher Genehmigung«. Und kennen Sie den: Die Frau im Ehebett zu ihrem Mann: »Lieg still. Du wendest dich doch tagsüber genug.« Aber offensichtlich lagen dem Zeichner andere Themen näher. Schon bald präsentierte er wieder Leute, die ihre Marotten pflegen, mit den Gewohnheiten der Familienmitglieder, Nachbarn, Kollegen hadern oder mit den Tücken des Objekts kämpfen.
Vorbilder hat Büttner keine. »Sie sind mir alle zu groß.« Wichtig ist ihm jedoch ein geräumiger Koffer im Arbeitszimmer, in dem er sämtliche Zeichnungen verwahrt. »Falls mal eine Feuersbrust kommt, kann ich damit aus dem Fenster springen«, hat er mir erklärt. Der Gau ist glücklicherweise ausgeblieben. Als ich es vor ein paar Tagen wagte, ihn in seiner Zurückgezogenheit zu stören, um zu gratulieren, war er wohlauf, hellwach und leicht amüsiert über alle, die sich zu seinem Geburtstag abstrampeln. Einem Kollegen, der ihn gerne kennen gelernt hätte, schrieb er folgendes: »Mit zunehmendem Alter werden mir die Konsequenzen meiner relativen Wahnhaftigkeit immer mehr zur Last. Weitere Veröffentlichungen meiner Zeichnungen verhindere ich schon seit Jahren. Mich neuerdings in Erinnerung zu bringen, passt also keinesfalls zu meiner heutigen Befindlichkeit. In Vergessenheit zu geraten, ist aus meiner Sicht kein Unglück. Mit der Bitte um Verständnis und besten Grüßen. PS: Berühmtheit ist die Strafe des Talents. René Descartes.
So einer muss einfach hundert Jahre alt werden. Google wird ihm den Gefallen tun – in absehbarer Zeit wird der Karikaturist Henry Büttner sukzessive wieder auf hintere Seiten rutschen. Die Zeit überdauern werden seine Zeichnungen – gewiss nicht nur im Koffer.
Anmerkung:
Dieser Text wurde in Ossietzky 24/2013 erstveröffentlicht.