Ein "komisches, sehr komisches Stück" hat Tschechow sein Werk genannt, das 1904 am Moskauer Künstlertheater uraufgeführt wurde und dort als lyrisches Drama zu erleben war. In Karin Henkels Inszenierung ist das Komische mit dem Lyrischen verbunden. Schauplatz der Handlung ist die Manege, Sphäre der Weißen Clowns und der Dummen Augusts. Was da geschieht, ist absurd und grotesk und zugleich herzzerreißend traurig. Wie ein verrückter Traum rast die Vorstellung vorbei. Besinnliche Pausen gibt es nicht, dafür abrupte Brüche, die aufschrecken lassen, einmal fährt sogar unvermittelt der eiserne Vorhang herunter und das Saallicht leuchtet auf, Vorzeichen für das unvermeidliche Ende. Das Wissen darum lastet auf den Beteiligten, lässt sie immer wieder für kurze Augenblicke in Ratlosigkeit erstarren, bevor sie dann in noch größere Hektik verfallen.
Anführerin bei der rasanten Betriebsamkeit ist die Gutsbesitzerin Ljubow Andrejewna Ranjewskaja, eine attraktive Frau auf der Flucht vor dem Alter und dem Verlust ihres Reichtums und ihrer Machtposition. Lena Schwarz entwickelt ein faszinierendes Psychogramm dieser zerrissenen Persönlichkeit, die sich äußerst effektvoll in Szene zu setzen weiß. Diese Ranjewskaja ist eine Diva. Applaus ist ihr Lebenselixier, und sie versteht es grandios, mit jeder Geste und jedem Tonfall Aufmerksamkeit und Bewunderung hervorzurufen, ganz gleich, ob sie zum Feiern aufruft oder höchst dekorativ in Trauer über den Verlust ihres kleinen Sohnes versinkt.
Zuhören oder auf andere Menschen eingehen kann diese Ranjewskaja nicht. Das würde sie aus ihrem Konzept bringen, an dem sie krampfhaft festhält, um nicht in die Abgründe ihrer Ängste zu stürzen. Wie nah diese Frau den Abgründen ist, offenbart Lena Schwarz immer wieder in kleinen Momenten der Verwirrtheit und Orientierungslosigkeit, aus denen die Ranjewskaja sich immer wieder selbst herausreißt mit einer eisernen Disziplin, die im Gegensatz steht zu ihrer zur Schau getragenen Flatterhaftigkeit und Zerbrechlichkeit.
Im Schlepptau der Ranjewskaja ist ihr Bruder Leonid. Matthias Bundschuh mit seinen eleganten Bewegungen und dem bleichen Gesicht mit dunklen Augenrändern sieht aus wie Graf Dracula. Unheimliches geht von ihm jedoch nicht aus. Leonid ist ein liebenswerter, zurückhaltender Mensch, einer, der sich, selbstverliebt, den Luxus gestattet, trotz fortgeschrittener Jahre immer noch ein Kind zu sein.
Bei Tschechow ist der Bezug zum Zirkus durch die Gouvernante Charlotte hergestellt, die einer Artistenfamilie entstammt und als Kind Kunststücke erlernte, die sie nun bei den Festen auf dem Landgut vorführt. Brigitte Cuvelier spricht schnippisch mit französischen Akzent, wahrt, mit der Überlegenheit der Künstlerin, Distanz zur Gesellschaft, präsentiert sich bei ihrem ersten Erscheinen triumphierend im Spagat, lässt sich zu weiteren Darbietungen gebührend bitten, und beweist sich als unabhängige Frau, die sich Verehrer vom Hals hält und auch mit dem Jagdgewehr umzugehen versteht.
Die clownesken Züge des Jepichodow sind ebenfalls von Tschechow ausgearbeitet. Der Buchhalter ist wahrlich ein Dummer August, vom Pech verfolgt, versehentlich alles zerstörend, was er anfasst und zu nichts zu gebrauchen. Yorck Dippe stakst und stolpert über die Bühne, suhlt sich in tragikomischem Selbstmitleid und trägt, um eventuell sein Leben zu beenden, immer eine Pistole bei sich. Als er die mit brillanter Ungeschicklichkeit aus seiner Hosentasche nestelt, löst sich jedoch überraschenderweise kein Schuss.
Der Gutsbesitzer Simeonow-Pischtschik (Michael Weber) reißt sich in höchster Aufregung die Kleider vom Leibe auf der Suche nach seiner Brieftasche. Solche Slapsticks, wie auch das Hinfallen und übereinander Purzeln diverser Personen geschehen mit tänzerischer Leichtigkeit, ganz en passant und sind hervorragend eingebaut in die exzellente Gesamtchoreografie.
Lopachin ist der Mann der Zukunft inmitten des Untergangs. Charly Hübner gestaltet ihn mit anrührender Menschlichkeit. Einerseits ist dieser Lopachin, Sohn eines armen Bauern, unendlich stolz auf seine Erfolge als Geschäftsmann und seinen, durch Fleiß und Geschicklichkeit erworbenen Reichtum, andererseits ist er ein glühender Verehrer der Ranjewskaja. Der Kauf des abbruchreifen Gutshauses mit dem unrentabel gewordenen Kirschgarten bedeutet ein gutes Geschäft für Lopachin. Von Herzen gern aber, und das vermittelt Charly Hübner mit erschütternder Glaubwürdigkeit, würde er auf diese Erfolge verzichten und der Ranjewskaja helfen, den Gewinn selbst zu machen. Er verfolgt sie mit seinen Plänen für die Umgestaltung, bietet ihr Geld an, bettelt darum, sie möge ihre eigenen Interessen verfolgen. Sie hört ihm nicht einmal zu, und so erwirbt er den Besitz der adligen Familie, hin- und hergerissen zwischen Freude und Trauer.
So tatkräftig und entschlossen Lopachin Geschäfte betreibt, so zaghaft und ungeschickt verhält er sich in persönlichen Angelegenheiten. Er möchte Warja, Pflegetochter der Ranjewskaja, heiraten, wird von allen Seiten dazu ermutigt, weiß, dass Warja auf seinen Antrag wartet, und bringt doch die entscheidenden Worte nicht über die Lippen.
Lina Beckmann ist eine prachtvolle Warja, voller Herzensgüte, pragmatisch, fleißig, humorvoll und energisch. Von Warja bekommt Anja, die 17jährige Tochter der Ranjewskaja, die mütterliche Fürsorge, zu der die Gutsherrin nicht fähig ist.
Anja (Marie Rosa Tietjen) ist eine junge Frau, von der ein unwiderstehlicher Zauber ausgeht. Sie scheint von innen her zu leuchten. Sie ist die Einzige, die völlig wahrhaftig erscheint.
Trofimow (Jan-Peter Kampwirth) ist in dieser Inszenierung kein ganz überzeugender Idealist. Zwar verkündet er sozialistische Ideen und spricht über eine bessere Gesellschaft, in der alle Menschen arbeiten und niemand ausgebeutet wird, aber Trofimow ist auch kein Arbeiter, sondern ein verbummelter Student, der sich bei den Herrschaften behaglich eingerichtet hat.
Ein angenehmes Leben erhofft sich der verschlagene junge Diener Jascha (Maik Solbach) durch seine Affäre mit der Gutsherrin. Nebenbei hat er noch ein kleines Abenteuer mit dem Stubenmädchen Dunjascha (Laura Sundermann), das ebenfalls lieber ehrgeizigen Träumen nachhängt als seine Pflichten zu erfüllen.
Rastlos tätig dagegen ist der uralte Diener Firs (Jean Chaize). Er geht tief gebeugt, bewegt sich mühsam und ist so schwach, dass er nur unverständlich leise sprechen kann. Trotzdem schlägt er gelegentlich ein paar elegante Purzelbäume. Am Ende, wenn alle aufbrechen in ein neues Leben, dabei aber nur ziellos von einer Seite der Bühne zur anderen eilen, wird der treue alte Firs von den Dahinstürmenden einfach überrannt.
Die Vorstellung ist ein Rausch von Farben durch die traumhaft schönen Belle-Epoque-Kostüme, mit denen Kostümbildnerin Nina von Mechow das Ensemble ausgestattet hat.
Bühnenbildnerin Kathrin Frosch hat den Zirkus mit einfachen Mitteln anschaulich gemacht: Eine Manege, mit Sand aufgeschüttet, in der Mitte eine Drehscheibe, die an der Seite mit Glühbirnen versehen ist. Begleitet von zwei Musikern mit Schlagzeug und Posaune wird hier und auch auf der sonst leeren, schwarz ausgeschlagenen Bühne getanzt, geredet, gelitten und gelacht – zwei viel zu kurze Stunden lang.