Menschen mit gesundem Rechtsempfinden halten die Erinnerung wach, zum Beispiel mit den Stolpersteinen im Strassenpflaster, die der Kölner Künstler Gunter Demnig erfunden hat. In Berlin gibt es bereits 5 000 Stolpersteine. Die Opfer zu finden, ihre Sterbedaten zu ermitteln, die Steine zu bestellen, zu finanzieren und herzustellen, ist mühevolle Kleinarbeit. In Friedenau macht das zum Beispiel seit Jahren die Initiative Stierstrasse. Dort liegen inzwischen 54 Steine. Hier bestanden sogenannte Judenhäuser, wo die Nazis Juden zusammenpferchten, um sie dann abzutransportieren. In Tempelhof-Schöneberg gibt es viele Strassen mit Stolpersteinen. Im jüdischen Glauben ist es wichtig, den Namen jedes Menschen zu nennen. Mit den Stolpersteinen wird vielen bisher unbekannten Opfern ihr Name wiedergegeben, denn sie haben kein Grab.
Das ahnen auch die Neofaschisten. Am 28. und 29. März beschmierten und beschädigten sie mehr als 100 Stolpersteine in Friedenau. Und sie kamen wieder. An einem Tage im Mai fand Petra Fritsche aus der Initiativgruppe Stierstrasse an ihrer Wohnungstür die Inschrift: »Vorsicht! Juden-Freundin!« Gleichzeitig wurde das Wahlkreisbüro der Senatorin für Arbeit, Frauen und Integration, Dilek Kolat (SPD), in Friedenau beschmiert.
»Das reicht«, sagten Antifaschisten. »Nicht einschüchtern lassen, handeln!« Vergangene Woche luden das Jüdische Forum für Demokratie und gegen Antisemitismus und die Freie Universität Berlin zu einer Diskussion in die Freie Universität ein. Etwa 100 Leute aus Friedenau, Schöneberg und Steglitz kamen. Auf dem Podium saßen neben dem Moderator Levi Salomon Petra Fritsche, Dilek Kolat und die Bezirksbürgermeisterin von Tempelhof-Schöneberg, Angelika Schöttler (SPD). Im Saal auch Lala Süsskind, langjährige Vorsitzende der Jüdischen Gemeinde zu Berlin. Es wurde viel geredet über Ursachen und Folgen. Schöttler fand es unerträglich, dass die Naziopfer durch die Schändung faktisch noch einmal ermordet werden. Schwach belichtet blieben jedoch praktische Massnahmen, um Antisemitismus und Rassismus zu bekämpfen. Der Pädagogikwissenschaftler Mirko Niemann von der FU ließ den einfachen Schluss vermissen, die antifaschistische Bildung der Lehrer zu verbessern, um die Kinder in diesem Sinne erziehen zu können.
Das Interessanteste für alle war: Wie verhält man sich bei rassistischen Angriffen? Angegriffen wurden sowohl Petra Fritsche als auch Dilek Kolat. Beide hatten nicht gezögert, rauszugehen und die Steine wieder sauber zu schrubben. Auch die Bürgermeisterin schrubbte mit. Aber wie fühlt man sich bei einem persönlichen Angriff?
Kolat: »Bedrückt. Ich dachte, ich stehe darüber, aber jetzt weiß ich, dass ich verletzbar bin. Die Rassisten wollten kleine Zeichen setzen: `Wir wissen, wo du bist ´. Ich dachte, das passiert in Hellersdorf oder in Lichtenberg, aber nun in einem Stadtteil, wo das Leben anscheinend noch in Ordnung war. Jetzt sind wir besser vorbereitet.« Kolat weiß jetzt – sie hat die richtigen Freunde und die richtigen Feinde.
Fritsche: »Ich wollte es ignorieren – eine Art Selbstschutz. Bis mich Nachbarn fragten, ob ich die Polizei gerufen hätte. Plötzlich rückte eine Malerfirma an, die die Türe reinigte und neu anstrich. Geld wollte sie nicht. Ich war überrascht von der Solidarität vieler Leute.«
Allerdings fiel es dem Ratschlag schwer, zum Wesentlichen vorzudringen. Niemand stellte die Frage, ob die rassistischen Aktivitäten Teil einer Strategie zur Entlastung der Neonazis im NSU-Prozess sein könnten. Erst auf Nachfrage von jW fiel den Politikerinnen ein, dass das NPD-Verbot aussteht. Dilek Kolat ist überzeugt, dass die NPD die parlamentarische Verlängerung der faschistischen Aktionen ist. »Die NPD gehört verboten!« Sie hält dem Senat zugute, dass er das Verbotsverfahren im Bundesrat betrieben hat, während sich die Bundesregierung nicht angeschlossen hat (Wie sich ihre Partei in den Koalitionsverhandlungen dazu stellen wird, konnte noch nicht diskutiert werden). Angelika Schöttler will die Zivilgesellschaft im Bezirk stärken. In Marienfelde haben engagierte Bürger bereits eine NPD-Kundgebung verhindert. Hätten die Veranstalter Zeit für eine Diskussion eingeräumt, wären sicherlich gute Vorschläge gekommen. Immerhin, eine Lektion in Zivilcourage bot die Versammlung allemal.