Frankfurt am Main, Hessen, Deutschland (Weltexpress). Es gibt Menschen, so heißt es, die sind nicht tot zu kriegen. Wie Bizets Carmen in der Frankfurter Neuinszenierung von Barrie Kosky. Kaum liegt sie nach dem Eifersuchtsdrama zwischen ihr und Don José ermordet am Boden, geschieht ein Wunder biblischen Ausmaßes. Denn zur Überraschung aller Opernbesucher steht die tote „femme fatale“ nach wenigen Augenblicken schon wieder auf ihren Beinen und scheint mit erhobenen Armen wohl selbst überrascht zu sein über diese für alle unerwartete Wendung.
Am Ende des Opernabends in der Oper Frankfurt ist dies der abschließende Höhepunkt einer mitreißenden Neuinszenierung, die in ihrer Originalität das Opernpublikum stets zum näheren Hinschauen und Hinhören herausfordert. Soll mit Carmens Wiederauferstehung etwa auf das ewig Weibliche verwiesen werden, das in seiner dämonisch-erotischen Variante nie aufhören wird zu existieren? Oder ist dies der endgültige Sieg der von Carmen immer wieder beschworenen Freiheit, die sich auf unangepasst-kompromisslosem Weg auch von der Wirklichkeit nicht einholen lässt?
Neue Carmen-Opernfassung
Carmens weibliches Gegenstück ist Micaela, ein anständiges und einfühlsames Mädchen, in dem Don Josés Mutter bereits die zukünftige Schwiegertochter ausgemacht hat. Carmens Bekenntnis zur unbeständigen Liebe, die wie ein Vogel je nach Gefühlslage hin und her flattert, ist von ganz anderem Kaliber. Mit ihrer amourösen Ausstrahlung wirft sie den Sergeanten Don José nicht nur privat sondern auch beruflich aus der Bahn.
Ja, Prosper Merimée geizt in seiner 1845 entstandenen gleichnamigen Novelle nicht mit Konfliktstoff (Text: Henri Meilhac und Ludovic Halévy). Ein Sachverhalt, der dazu führte, dass immer wieder Änderungen an Libretto und Komposition vorgenommen wurden. Grund genug, um für die aktuelle Frankfurter Inszenierung aus den verschiedenen Fassungen eine ausgesprochen kühne Carmen-Opernfassung zu erstellen. So setzt sich beispielsweise die hier gesungene Habanera-Arie aus zwei unterschiedlichen Varianten zusammen – genial!
Monumentale Treppe
Optisches Zentrum der Aufführung ist die horizontal und vertikal bühnenfüllende monumentale Treppe (Katrin Lea Tag). Wie unter einem Brennglas wird die Handlung hier gebündelt oder ausgebreitet. So beispielsweise der überschwängliche, ja brodelnden Volksauflauf (Chor/Kinderchor/Tänzer) beim Erscheinen des Toreros Escamillo (Andreas Bauer). Atemberaubend Escamillos Auftritt mit Carmen als Todesgöttin, deren treppenfüllende schwarze Schleppe (Kostüm: Katrin Lea Tag) wie ein ausgebreitetes Leichentuch ihren Tod vorausahnen lässt.
Eine interpretatorische Leistung, der die „neue“ Carmen in den Status einer ewig weiblichen Figur erhebt, wie sie in dieser Form noch nie auf einer Bühne zu sehen war. Eine riesige Aufgabe für die beiden Carmen-Interpretinnen (Paula Morrihy/Tanja Ariane Baumgartner), die die kompromisslose und brutale Souveränität in der Liebe gesanglich und darstellerisch irritierend verkörpern. Dagegen Micaela (Juanita Lascarro), die das liebenswürdige „Heimchen am Herd“ einfühlsam verkörpert.
Schmeicheln und Drohen
Hin- und her gerissen zwischen diesen beiden verführerischen Sirenen wird Don José (Joseph Calleja), der als einer der weltweit gefragtesten Tenöre mit seinem szenischen Rollendebüt schmeichelnd und drohend seine immense stimmliche Variationsbreite erstrahlen lässt.
Und natürlich gilt der stehende Applaus neben allen Bühnendarstellern auch dem Frankfurter Opern- und Museumsorchester, das unter der dynamischen musikalischen Leitung von Sebastian Zierer Bizets Opéra comique ebenfalls neues Leben einhaucht. Insgesamt ein Abend wie aus einem Guss und sicherlich einer der Höhepunkte der diesjährigen Frankfurter Opernspielzeit.
Weitere Aufführungen: 7., 11., 14., 16. Juli 2016