Karin Henkel, deren Inszenierungen in den letzten Jahren regelmäßig zum Theatertreffen eingeladen wurden, hat damit immer kontroverse Reaktionen ausgelöst. Ihre höchst eigenwillige Ibsen -Interpretation, die ganz auf die verfeindeten Zwillingsschwestern Gunhild Borkman und Ella Rentheim konzentriert ist, wurde vom Publikum bejubelt und von der Presse fast einhellig gelobt.
Die ZuschauerInnen erfahren zwar, was im Stück steht, dass nämlich der ehemalige Bankdirektor Borkman ein böses Spiel mit den Schwestern getrieben hat, es sieht jedoch so aus, als ob die beiden ganz gut ohne Hilfe von außen für ihr Unglück sorgen könnten. Ella war mit Borkman verlobt, aber Gunhild hat ihn geheiratet. Diese ist durch Borkmans kriminelle Spekulationen arm geworden, während Ella ihr Geld behalten hat. Damit unterstützt und demütigt sie Gunhild samt Mann und Sohn Erhart, der seine Kinderjahre bei Ella verbracht hat.
Die Schwestern haben sich acht Jahre lang nicht gesehen, aber nun ist Ella, schwer krank, angereist, um Erhart als Pfleger und Begleiter für ihre letzten Lebensmonate zu sich zu holen. Selbstverständlich ist Gunhild damit nicht einverstanden. Sie setzt ganz andere Erwartungen in Erharts Zukunft. Dass auch Borkman Pläne mit seinem Sohn hat, ist kaum von Bedeutung.
Erhart soll selbst entscheiden, auch wenn Mutter und Tante ihn kaum zu Wort kommen lassen, denn jede will hören, dass er sich für sie entscheidet. Gunhild und Ella zerren gewaltsam links und rechts an den Ärmeln von Erharts Norwegerpullover, entkleiden den jungen Mann und stecken ihn, wie ein Kleinkind, in eine eilig herbeigeschaffte Badewanne.
Lina Beckmann wurde für ihre Darstellung der Ella Rentheim mit dem 3sat-Preis ausgezeichnet, und diese grandiose Schauspielerin leistet in der Tat Phänomenales in ihrer Rolle. Die Auszeichnung hätte aber wohl ebenfalls Julia Wieninger als Gunhild Borkman verliehen werden müssen, denn die Gestaltung der beiden Schwestern ist ein Gesamtkunstwerk, auch wenn dabei Lina Beckmann den größeren Teil der Aktionen übernimmt.
Die kranke Ella leidet unter beeindruckenden Anfällen von Atemnot, wackelt mit dem Kopf, zuckt mit dem ganzen Körper, versucht sich vergeblich in anmutigem Schreiten und entschließt sich einmal, als es ihr allzu schwer fällt, die Treppen hinaufzusteigen, die Stufen mit einem schwungvollen Purzelbaum zu überwinden. Um Borkman, Erharts wegen, auf ihre Seite zu ziehen, tanzt und posiert Ella vor ihm in der grotesken Imitation eines Pin-up-Girls.
Julia Wieninger als Gunhild dagegen repräsentiert die altersbedingte Schwerfälligkeit, die Ella zu kaschieren versucht, und während diese, mit künstlich in die Höhe geschraubter Stimme, verlogen die Einfühlsame und Sensible gibt, antwortet Gunhild, die Axt in der Hand, brummig mit brutalem Starrsinn.
Es ist kein Zickenkrieg mit Gekreische und einander an den Haaren reißen, der zwischen den Frauen tobt, und es sind auch keine Schimpfwörter zu hören. Es ist Ibsens Text, manchmal etwas zugespitzt, den die Schwestern treffsicher aufeinander abfeuern.
Gunhild und Ella haben reichlich Erfahrungen gesammelt in diesem Krieg, den sie seit ihrer Kindheit gegeneinander führen. In Rückblenden ist der Kampf der beiden Mädchen um einen Teddy zu erleben oder Ella, panisch schreiend, von Gunhild in einen Schrank eingesperrt. In der Gegenwart, als alte Frauen, setzen Beckmann und Wieninger sich Halbmasken mit faltigen Gesichtern auf. Auch Josef Ostendorf als Borkman wird durch den Einsatz einer solchen Maske zu einer gespenstischen Erscheinung. Zugleich kommt mit den Masken und den grotesk überzeichneten Charakteren auch ein Hauch Commedia dell’arte in den kalten Norden, in dem Schnee durchs Fenster herein weht.
Zwischen den beiden ganz und gar aufeinander bezogenen Frauen herrscht eine ungeheure Spannung, von der die gesamte Vorstellung getragen wird. Die anderen Personen des Stücks, allesamt präzise charakterisiert, agieren zurückhaltend im Schatten der dämonischen Schwestern: Josef Ostendorf schleppt sich kraftlos dahin als Borkman. Gelegentlich trumpft er noch auf, setzt sich vehement gegen Schuldzuweisungen zur Wehr, aber seine groß angelegten Zukunftspläne wirken wie das unsinnige Geplapper eines senilen alten Mannes.
Ganz und gar realitätsfern erscheint auch Matthias Bundschuh als Vilhelm Foldal, eine bedauernswerte, erbärmliche Kreatur, hin- und hergerissen zwischen seinen Minderwertigkeitskomplexen und seinem Größenwahn. Bundschuh spricht mit einem Schluchzen in der Stimme, immer gerührt, unglücklich oder hoffnungsvoll und immer ausschließlich um sich selbst kreisend.
Erhart (Jan-Peter Kampwirth), der Hoffnungsträger für Mutter, Tante und Vater ist, wie sein Vater zu Recht sagt: „Ein Versager“, einer, der aussieht wie ein Mann, aber keine Chance hatte, erwachsen zu werden. Er fühlt sich erkennbar unwohl in seiner Haut und wirkt immer so, als ob er sich am liebsten verkriechen möchte, obwohl er doch nun endlich aus seinem Gefängnis ausbrechen will, wenngleich es ihm fast das Herz bricht, die an ihn gestellten Erwartungen nicht erfüllen zu können. Wenn er nach Freiheit und Leben schreit, klingt das wie das misslungene Krähen eines heiseren Hahns.
Kurz vor Schluss greift Kate Strong als Fanny Wilson entschlossen in den Gang der Handlung ein. An ihrer Seite kann Erhart dem Würgegriff von Mutter und Tante entkommen, auch wenn er anscheinend nur in eine neue Abhängigkeit gerät. Im Gefolge der britischen Kommandeurin entschwindet auch die 15jährige Frida Foldal (Gala Winter), angehende Sängerin, die Borkman Gesellschaft geleistet und musikalische Erbauung geboten, sich gegen seine sexuellen Übergriffe zur Wehr gesetzt hat und zum Abschied triumphierend ein italienisches Lied singt, im Kontrast zu den Kirchenchorälen, die von Gunhild und Ella vorgetragen wurden. Der diesjährige Juror Samuel Finzi war von Gala Winters Darstellung der Frida so begeistert, dass er ihr den Alfred-Kerr-Darstellerpreis verlieh.
Nachdem Erhart fort und Borkman schließlich gestorben ist, könnten sich die feindlichen Schwestern, wie in Ibsens Stück vorgesehen, miteinander versöhnen. Hand in Hand laufen Lina Beckmann und Julia Wieninger an die Rampe, um sich dann, vor dem begeistert klatschenden Publikum, darüber zu streiten, welcher von ihnen der Applaus zugedacht ist.
Wie bei der Ibsen-Produktion vom Hamburger Schauspielhaus ging es auch beim Gastspiel des Schauspiels Stuttgart um den Zerfall einer Familie und die gewaltsame Deformation der Nachkommen. Der erfolgreiche junge Regisseur Christopher Rüping war erstmals zum Theatertreffen eingeladen mit seiner Theateradaption des Films „Das Fest“ von Thomas Vinterberg und Mogens Rukov.
Die Frage, weshalb Rüping diesen Film, der mehrfach im Fernsehen gezeigt wurde, auf die Bühne gebracht hat, blieb für mich unbeantwortet. Zweifellos war eine unterhaltsame Vorstellung mit schönen Bildern und einem hervorragenden jungen Schauspielensemble zu erleben. Es gab sogar einen ganz überraschenden und erschreckenden Moment, wenn nämlich der älteste Sohn bei der Feier zum 60. Geburtstag seines Vaters, mitten im fröhlichen Trubel erklärt, der Vater habe ihn und seine Zwillingsschwester als Kinder über eine längere Zeit hinweg viele Male vergewaltigt.
Offenbar kostet es Christian große Überwindung, das Verbrechen zu benennen. Er schreit seine Anklage nicht heraus, bringt sie fast beiläufig vor. Ihm ist klar, dass alle in der Familie davon wissen und das Ungeheuerliche nicht wahr haben wollen.
Das bleibt zunächst auch nach Christians klaren Worten so. Christian wird als Lügner und psychisch Kranker diskreditiert. Nachdem der junge Mann jedoch immer wieder seine Anschuldigungen vorbringt, kippt die ausgelassene Stimmung mehr und mehr. Das Beklemmende, Unerträgliche, das Paul Grill als Christian so deutlich spürbar werden ließ, verliert sich dabei allerdings auch.
Die AkteurInnen tragen weite Pullover mit den aufgedruckten Anfangsbuchstaben ihrer Rollennamen. Diese Pullover werden nun ausgetauscht. So wird das Opfer zum Täter und umgekehrt, und die Mitwissenden und Mitschuldigen begeben sich mal in die eine und dann wieder in die andere Rolle. Schreckliches ist geschehen, und alle leiden darunter und alle sind verantwortlich dafür, während das Fest weitergeht, der Pianist im Hintergrund auf dem Flügel spielt, der senile Opa auf dem Tisch steht und sexistische Witze erzählt, und ein wunderschöner bunter Konfettiregen vom Bühnenhimmel fällt.
Die Suche nach dem Abschiedsbrief von Christians Zwillingsschwester, die Selbstmord begangen hat, weil sie mit der ständigen Erinnerung an die Gewalt, die ihr angetan wurde, nicht mehr leben konnte, gestaltet sich wie eine fröhliche Schnitzeljagd. Nach der Entdeckung des Briefs kann das Verbrechen aus der Vergangenheit nicht länger geleugnet werden.
Der Vater wird symbolisch erschlagen und beerdigt, und Christian wird von der Verfolgung durch den Geist seiner toten Schwester erlöst und erlebt ein Happy End mit seiner Liebe aus Kindertagen.
Der noch sehr lebendige Vater erklärt abschließend, er habe seine Kinder immer geliebt, bekennt sich zu seiner Schuld und bedauert, seine Söhne und seine überlebende Tochter nun wohl nicht wieder zu sehen.
Etwas Schreckliches ist früher einmal geschehen, aber am Schluss ist nicht mehr ganz klar, worum es sich eigentlich gehandelt hat.