Berlin, Deutschland (Weltexpress). In das Jahr 2017 fällt der 120. Geburtstag Paul Ben-Haims, mit bürgerlichem Namen Paul Frankenburger, geboren 1897 in München. Bereits 1931 wurde er als Jude vom Augsburger Theater entlassen, floh 1933 nach Palästina und nahm dort den Namen Ben-Haim – »Sohn des Lebens« – an. Er wurde einer der führenden Komponisten und Kulturpolitiker in Israel, der bis zu seinem Lebensende das Musikleben Israels prägte. Die Aufführung seiner Werke durch Yehudi Menuhin, Jascha Heifitz, Menachem Pressler und Leonard Bernstein machten ihn international bekannt. Bein-Haims Schicksal teilten Dutzende deutsch-jüdische Komponisten wie Kurt Weill, Alexander Zemlinsky, Franz Schreker, Ernst Toch, Hanns Eisler und viele andere. Ihr Problem war: Sie hingen am alten Leben, aber es gab kein Zurück. Sie begannen ein neues Leben (NEW LIFE!), ohne Kenntnis der Sprache ihres Exils, ohne Beziehungen. Viele schafften es, Fuß zu fassen, andere verließen die Kräfte. Einige Komponisten waren eng mit dem von Bronislaw Huberman gegründeten Palestine Symphony Orchestra verbunden und verdankten ihm sogar das Überleben. Joseph Kaminski, Dirigent des Warschauer Rundfunkorchesters, wurde 1937 von Huberman in das Palestine Orchestra geholt und entging so der Verfolgung durch die Naziokkupanten.
Ben-Haims Jubiläum inspirierte die Sopranistin Mimi Sheffer, sich der Wiederbelebung der Kunstmusik jüdisch-europäischer Komponisten zu widmen und in Berlin das Festival NEW LIFE – Lebenspfade – zu gründen. Drei Tage lang wurden am Wochenende in der Sankt-Elisabeth-Kirche und in der Villa Elisabeth Werke geflüchteter jüdischer Komponisten gespielt, vom Klaviertrio und Streichquartett bis zur Sinfonie, darunter Uraufführungen und deutsche Erstaufführungen. Was wie ein Anachronismus erscheint – so die Uraufführung einer Ouvertüre von Alexander Zemlinsky (1871-1942) – hat tragische Gründe, weil diese Werke in Deutschland nicht gespielt werden konnten oder weil die Noten verschollen waren oder weil sie im Exil entstanden und eben jetzt nach Deutschland (re)importiert werden. Darüber ließe sich lange philosophieren, doch das Entscheidende für den Hörer war die Freude an der Entdeckung nicht erahnter Kunstwerke.
So begannen die Berliner Symphoniker unter Leitung von Lior Shambadal mit der Uraufführung der Ouvertüre von Zemlinsky und dem sinfonischen Gedicht für Sopran und Orchester »Pan« von Paul Frankenburger sowie mit der deutschen Erstaufführung des Klavierkonzerts op. 41 (1949) von Ben-Haim, furios gespielt von der New Yorker Pianistin Gila Goldstein. Am Sonntag folgten das Violinkonzert von Josef Kaminski (1903-1972), geschrieben 1947-1949 und hier gespielt vom Ersten Konzertmeister des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin, Erez Ofer, sowie die deutsche Erstaufführung des Klavierkonzerts No.1 von Josef Tal (1910-2008), gespielt von der israelischen Pianistin Ofra Yitzhaki. Die Berliner Symphoniker, ignoriert vom Berliner Kultursenator Klaus Lederer (Die Linke), spielten in gewohnt zuverlässiger Manier. Sie durften sich des Privilegs erfreuen, als erste in Deutschland Paul Ben-Haims grandioses Klavierkonzert mit seiner israelisch-mediterranen Klangfarbe und Josef Tals früh-modernes Klavierkonzert aufzuführen – eine schöne Bereicherung ihres Repertoires. Der Konzertmeister Michail Sekler war entzückt von den reizvollen Stücken, die sie zu spielen hatten.
Der israelische Botschafter Yakov Hadas-Handelsman, Schirmherr des Festivals, brachte es auf den Punkt, wenn er bemerkte, dass durch die Schuld der Nazis unersetzliche Verluste für das deutsche und europäische Kulturleben entstanden sind, und dass die Musiker nun versuchen, einen Teil der musikalischen Ideen jüdischer Komponisten nach Deutschland zurückzubringen. Die jahrhundertealte jüdische Kulturtradition in Deutschland werde über Generationen zu neuem Leben erweckt, auch durch Zeitgenossen wie Daniel Barenboim und Lior Shambadal. Es bleibt anzumerken, dass die gleichen oder größere Verluste für die Wissenschaft durch die Vertreibung oder Ermordung jüdischer Mediziner, Physiker, Chemiker, Pharmakologen und anderer entstanden sind.
Eine Lücke im Konzept des Festivals: es fehlen Komponisten wie Hanns Eisler und Paul Dessau, Kommunisten, die den Kampf um ein besseres Deutschland nie aufgaben und in der DDR, gemeinsam mit einem Zirkel jüdischer Intellektueller, den Platz fanden, für dieses Ziel zu arbeiten. Das erste Festival darf nicht das letzte gewesen sein.