Der junge Student der Malerei stand im Wohnzimmer seiner Münchener Vermieterin – nackt. Sah den weißen Fleck seiner Körperflüssigkeit erst als Umriss der Braut aus Duchamps Großen Glas und sich selbst als Aktmodell auf einem Munchgemälde, kroch Stunden später durchgefroren und unentdeckt in sein Bett, „drehte sich zur Wand und füllte sein Gesichtsfeld mit roter Farbe“.
In poetischer Sprache und mit großem Situationswitz führt uns Hallgrímur Helgason in die frühen Achtziger Jahre zurück. Mit seinem schüchternen Isländer namens Jung erobern wir Europa, immer aus dem Blickwinkel eines Insulaners, der Vergleiche zu seiner Insel zieht. Die wenigen Einwohner, die Kälte, fehlende Kultur und Bauwerke. In der kulturträchtigen Fremde die ständige Geilheit und der große Durst. Doch auch in Deutschland ist Winter und der kalte Krieg beherrscht den Alltag. Einsamkeit, Biertrinken und bayrisches Essen führen zu einer seltsamen Erkrankung des jungen Mannes, der fortan kotzen muss – Brocken heiß wie glühende Kohle erbricht. Bei Berührung mit seinen Hinterlassenschaften brechen Feuer aus, verderben Kleidungsstücke, interessiert sich ein Geheimdienst für ihn.
An der Kunsthochschule fehlt im der richtige Knall, den jedes Bild bräuchte und die kleine Exil-Gemeinschaft der Isländer in München macht sich über ihn lustig. Auf dem Oktoberfest; „so etwas wie ein isländisches Open-Air-Festival in Großformat“, betritt er das Bierparadies. Seine Landesbrüder bestellen ihm einen Stiefel Bier gigantischen Ausmaßes und amüsieren sich mächtig.
„Alles natürlich nach heimischer Art mit Hohn und Spott heruntergemacht, was es nur noch schlimmer machte, da es doch wieder einmal vor allem den Selbsthass der Isländer bloßlegte, der sich dafür hasste, dieses Land zu lieben, und das Land dafür hasste, dass er es liebte.“
Was ist eigentlich nach Hallgrímur Helgason das Problem des Isländers? „Sein Volk war zu klein, um an es dieselben Anforderungen zu stellen wie an eine große Nation, doch zugleich waren seine Vorstellungen von diesem Volk natürlich ebenso hoch wie die anderer an ihr Volk. Aus diesem Grund konnten Isländer Dinge von nationaler Tragweite nie anders besprechen als halb im Scherz.“
Halb im Scherz trudelt auch der über 400 Seiten starke Roman durch ein europäisches Jahr. Junge Wilde kreuzen seinen Weg, Anarchie-Zeichen, Punks und eine italienische Cafeteria-Angestellte. Jung ist überall unter Druck, am falschen Ort. Mit seinem dicken Wintermantel, in dessen Innentasche er einen Maßkrug transportiert, um sich jederzeit unauffällig dort hinein übergeben zu können, ohne seine Umgebung in Brand zu stecken, zieht wie ein moderner Schlemihl durch Europa. Bis nach Florenz führen seine (Irr)Wege. Als er die Kunsthochschule und München fluchtartig verlässt, um endlich nach Berlin zu reisen, atmet auch der Leser auf. Jung kehrt der Malerei den Rücken, die Auseinandersetzung des Autors mit der Malerei ist jedoch auf jeder Seite zu spüren und der Leser fragt sich, wie viel Magma in Bildern Hallgrímur Helgasons auftauchen würde.
Hallgrímur Helgason verknüpft in seinem autobiografisch geprägten Roman eigene Erlebnisse als Kunststudent in München mit einem zeithistorischen Panorama, ohne jemals zu werten. Dem Autor gelingen atemberaubende Reminiszenzen an eine angeblich reizlose Heimat im Norden Europas, in welcher er schon vor zwanzig Jahren mit seinem Debüt „101 Reykiavik“ schlagartig berühmt wurde und schnell internationalen Erfolg erwarb. Weitere Romane folgten, die auf groteske Weise seine Heimat karikierten und zugleich feierten, zuletzt 2013 „Eine Frau bei 1000 °“.
Mit „Seekrank in München“ kehrt Helgason nach Deutschland zurück, zu seinen eigenen Anfängen. Ihm ist vielleicht durch den großen zeitlichen Abstand das elegant schwebende Porträt eines jungen Mannes gelungen, der von einer kleinen Insel aufbricht, die große Welt kennen zu lernen? Eine Reise zu sich selbst, die ihn in die Villa des isländischen Fußballhelden „Sigur“ und schließlich in das Stasi-Gefängnis nach Ost-Berlin führt…
Wir müssen Jung einfach lieben, der verpickelt, kotzend und schwitzend mit seinem Wintermantel durch die Straßen stolpert, über Duchamp grübelt und Halldór Laxness zitiert. Sich fragt, ob die Sonne wirklich über dem Hausberg Reykjaviks aufgehen kann, wie auf einem Bild in München dargestellt.
Sie kann und all diese Nebenstränge und Gedanken zaubern uns so viele Lächeln ins Gesicht, dass wir das Buch am Ende glücklich aus der Hand legen!
Schade übrigens, dass der Tropen Verlag ein anderes Cover verwendet hat, die Cover-Montage der gleichzeitigen isländischen Publikation zeigt einen kotzende Junge über einem Briefumschlag aus Island.
* * *
Hallgrímur Helgason, Seekrank in München, Roman, Aus dem Isländischen von Karl-Ludwig Wetzig, 416 Seiten, Tropen Verlag, Stuttgart, 2015, ISBN: 978-3-608-50151-3, ISBN-10: 3608501517, Preis: 19,95 Euro