Nicht nur die Aussage dieses einzigen Satzes scheint ungewöhnlich in einem zeitgenössischen Roman eines Mitteleuropäers. Auch die Erzählperspektive. Man ist neunzehn. Das bin ich, das bist du, das sind wir alle in dem Moment, wo wir uns in dieses Buch hineinbegeben. Eine irre Reise in das Hirn zweier Männer, die auch einer sein könnten. Julien ist in den Krieg gezogen, erzählt jetzt dem Journalisten und Schriftsteller Martin davon. Martin zeichnet die Gespräche auf und schreibt die Geschichte später nieder, währenddessen schmeißt ihn seine Freundin Helena aus der gemeinsamen Wohnung und Martin muss in einem Hotel einchecken, seinen Zustand und sein Leben überdenken: „Im Aufzug ein Bild wie aus einem Pitigrilli: Aus der rundherum bespiegelten Kabine sprang Martin ein unrasiertes, ungepflegtes Gesicht entgegen; mit schwarzen Ringen unter den Augen und einem riesigen, blutverkrusteten Pflaster auf der linken Wange starrte es ihn an, bis Martin den Kopf senkte und das Horrorkabinett betrat. Was hatte er nur wieder mit sich angestellt.“
Unsere beiden Hauptfiguren haben eine Menge Probleme und noch mehr böse Erinnerungen. Die tauchen wieder hoch, nicht immer linear, aber immer eindringlicher. Sieht Juliens Fahrt in den Krieg anfangs noch aus wie misslingender Schülerstreich, holen ihn in den kroatischen Bergen die wahren Gegebenheiten eines Krieges schnell auf den Boden der Tatsachen. Und uns mit.
„Wird man zum Mörder, wenn man Mörder umbringt, ohne direkt bedroht zu werden? Nein, sagt eine Stimme und man ist froh darum: Sie versichert einem, dass es in Ordnung ist, wenn man andere Menschen dadurch retten kann, und dass es eine rein utilitaristische Handlung ist und man sogar stolz darauf sein muss.“
Martin sinniert inzwischen in seinem Hotelzimmer über Helena, die große und soeben endgültig vergeigte Liebe, lange Nachmittage seiner Kindheit und eine Reise nach Zadar im letzten Jahr. Und hier offenbart sich nicht nur die Sehnsucht des Schriftstellers mit Schweizer Pass nach seinen Wurzeln, sondern die Michel Bozikovic bei aller Bitternis innewohnende Sprachgewalt eines Liebenden. In diesem Falle gilt seine Hingabe dem Meer, den Inseln und den kleinen Zauberstädten an der Adriaküste Dalmatiens.
„”¦Von deinem Zimmer aus siehst du direkt auf den Hafen, sagte Vedran, und Martin nickte wortlos, überwältigt vom türkisblauen Meer und den uralten Gebäuden aus weißem Stein, den Inselketten, die sich jenseits der Stadt am Horizont erstreckten – erschüttert von der Kraft der Emotionen, die dieser Ort in ihm hervorrief, fragte er sich, wieso er nicht früher hierher geflohen war, wo allein dieser Anblick und das seidene Licht jede Depression heilen und das Salz in der Luft und der Duft des Meeres alles Gift aus seinem Körper und seiner Seele heraussaugen und einen neuen Menschen aus ihm machen konnte?“
Weil er ein Idiot war, sagt sich Martin und setzt die Orgien an Selbstzerstörung fort, die immer drastischer wuchern im Laufe der Handlung. Kaum eine Droge wird ausgelassen im Spiel, das aufhören zu leben heißt, und wie Martin driftet auch Julien immer tiefer hinein in einen Wirbel der Zerstörung, der Ohnmacht, des Selbstekels”¦
Michel Bozikovic wurde 1971 in Zürich geboren, studierte unter anderem Philosophie, leitete ein Tonstudio und einen Verlag. Er arbeitet seit 1992 als Werbetexter, lebt in Zürich und liebt wie sein Held Martin das Segeln. Martin will sich im letzten Drittel des Romans den Kopf wegblasen, was er zunächst mit Kokain, Heroin und Alkohol versucht, später mit einer Pistole, die ihm Julien geschenkt hat. Die Geschichte driftet zunehmend ins halluzinogene, auch die Personen Martin und Julien sind immer schwerer auseinanderzuhalten. Wer harte Storys liebt und Happy Ends verachtet, sollte seine Lektüre unbedingt nach Seite 309 einstellen! Auf den letzten zehn Seiten wird ein wirklich traumhaftes Ende ausgemalt, das jedoch den Schrecken der vorherigen über 300 Seiten Schlingerns am Abgrund nicht aufzuheben vermag. Die wahren Helden dieses beeindruckenden Debüts sind übrigens die Frauen, die schön, schlau und prima kämpferisch daherkommen!
Fazit: Überraschend virtuoses Debüt eines Schweizers mit adriagetauftem Herz und deutscher Denke, ungemütlich, abgründig, verstörend und versöhnlich – wir erwarten weiteres!
P.S. Ein Super-Cover, stammte die Idee vom Verlag oder vom Autor?
Michel Bozikovic, Drift, Roman, 319 Seiten, Tropen Verlag Stuttgart, 2011, 19,95 €