Anliegen auch dieses Benefizkonzerts ist die Hilfe für die Opfer der Reaktorkatastrophe in Tschernobyl 1986, insbesondere für die gefährdeten und erkrankten Kinder. Diese Konzertbesucher finden den Ernst der Lage durch die Katastrophe von Fukushima bestätigt. So mag es nicht verwundern, dass sie sich, wie die Berliner Zeitung bemängelt, eher wie auf einer Demo als in einem Konzert fühlten. Sie wollen aufklären und handeln.
Es war das 247. IPPNW-Benefizkonzert seit 1984. Die Konzerte werden ehrenamtlich organisiert von Ingrid und Dr. Peter Hauber und weiteren Aktiven. Dr. Hauber setzt auf Musik als Ausdruck des Lebendigseins, der gerade im Atomzeitalter eine besondere Rolle zukommt. »Musik öffnet die Herzen und die Sinne und wird so zum probaten Vehikel, um unsere ärztliche Botschaft zur Verhinderung des Atomkrieges vielen Menschen verständlicher zu machen.«
In einem Vorgespräch, moderiert von Helge Grünewald, Dramaturg der Berliner Philharmoniker, beschrieben drei Ärzte der Organisation eindringlich die latente Katastrophe im atomar verseuchten Gebiet, in dem noch heute zwei Millionen Menschen leben, davon 700 000 Kinder. Es häufen sich Krebserkrankungen bei Kindern, ganz junge Frauen erkranken an Brustkrebs, die Zahl der Frühgeburten und Missbildungen steigt, viele der am Reaktor eingesetzten 830 000 Soldaten und Arbeiter siechen dahin. Umgesiedelte Kinder werden als »Glühwürmchen« gemieden. Zudem haben ausländische Helfer in Bjelarus und in der Ukraine bürokratische Hürden zu überwinden. Die Europäische Union findet keinen Haushaltstitel für Hilfsgelder, wie Professor Heyo Eckel berichtet.
Angesichts des enormen Finanzbedarfs der Opferhilfe mutet es da zum Beispiel völlig abwegig an, wenn der Volksbund Kriegsgräberfürsorge einen Riesenaufwand betreibt, um in russischer Erde die sterblichen Überreste von gefallenen deutschen Soldaten zu suchen und zu bestatten. Die dafür aufgewandten Spenden und Fördergelder sollten besser den Lebenden zugute kommen.
Die Ärzte brachten es auf den Nenner: die Atomkraft ist nicht beherrschbar, der radioaktive Müll eine wachsende Gefahr. Es muß ein Bewußtseinswandel eintreten, mahnt der Chefarzt Dr. Lutz Brückmann. »Wir kämpfen mit zwei Katastrophen: Die eine ist Tschernobyl, die andere ist die Lüge in Ost und West. Nach allem, was in Harrisburg, in Tschernobyl und in Japan geschehen ist, fordern wir den Ausstieg aus der Kernenergie.« Dietrich von Bodelschwingh sagt: »Es muß politisch etwas geschehen. Hier wird mit einer Technik gespielt, die unverantwortbar ist.« Brückmann warnte vor der Verdrängung des Problems, aber als Arzt weiß er, dass der Mensch die Verdrängung braucht; es komme darauf an, in welchem Maße. So könne man trotz des ernsten Anlasses ein schönes Konzert genießen.
Eingebettet in die fünf Sätze der Kammersymphonie c-Moll op 110 a von Dmitri Schostakowitsch , gespielt von Streichern der Berliner Philharmoniker, und in liturgische Gesänge des Kiewer Kammerchors CREDO (Leitung Bogdan Plish), lasen Therese Affolter und Christian Brückner die zu einer Chronik gebündeltenTexte der Schriftstellerin Swetlana Alexijewitsch und des Philosophen Günther Anders sowie aus Erzählungen von Soldaten, Arbeitern, Dorfbewohnern, Jägern und Kindern, gesammelt von Alexijewitsch . Die Menschen waren unvorbereitet und naiv. Sie eilten scharenweis zum Unfallort, zeigten den Kindern den explodierten Reaktor und bewunderten sein schönes rosa Leuchten.
Eingestreute Pressemeldungen jener Tage oder die Erklärung des Bundesinnenministers Friedrich Zimmermann, Tschernobyl sei 2 000 Kilometer entfernt und könne uns nicht beunruhigen, klingen wie reine Satire.
Andere Worte brennen sich dem Zuhörer ein: »Das friedliche Atom ist der Zwilling und Komplize des kriegerischen Atoms« (Peter Hauber). »Die Fortführung dieser Kraftwerke ist reiner Mord. Die Gleichsetzung von Atomwaffen und Atomkraftwerken ist legitim. Friedliche Nutzung der Kernenergie ist eine Lüge.« (Günther Anders).
Aufklärung und Musik waren perfekt verwoben, die Streicher und die Chorsänger beeindruckten mit ihrer Virtuosität.
Im zweiten Teil des Konzerts begeisterte die Staatskapelle Berlin unter Leitung von Andrej Boreyko mit dem Requiem für Streichorchester von Toru Takemitsu und mit der Symphonie Nr. 6 h-Moll von Peter Tschaikowsky.
Der Reinerlös des Abends wird der »Tschernobyl-Stiftung des Landes Niedersachsen«, dem Verein »Heim-Statt Tschernobyl« und den Opfern der Katastrophe in Japan zufließen. Die beteiligten Künstler traten ohne Gage auf. Das Konzert – von dem eine CD gefertigt wird – wurde live in der Digital Concert Hall übertragen. Extrabonus für die Staatskapelle Berlin: sie durfte live in der DCH spielen, die das Monopol der Berliner Philharmoniker ist.
Informationen: www.ippnw.de