Am gestrigen Samstag wurde der für seinen Feldzug gegen die Korruption bekannte Kemal Kilicdaroglu von seiner Partei zum neuen Vorsitzenden gewählt. Wegen seiner ruhigen Art und der Ähnlichkeit mit dem Freiheitshelden Ghandi wird der 61-Jährige auch als “Ghandi Kemal” bezeichnet. Wegen eines kompromittierenden Videos, das von ihm und einer Abgeordneten im Internet veröffentlicht worden war, legte der langjährige CHP-Vorsitzende Deniz Baykal Anfang Mai sein Amt nieder. Der 71-Jährige ist einer der schärfsten Gegner der Regierungspartei (AKP) von Ministerpräsident Tayyip Erdogan.
Seit den Wahlen 2002 ist die CHP die größte Oppositionspartei mit 97 der 542 Sitze in der Nationalversammlung. Sie wurde 1923 von Mustafa Kemal Atatürk gegründet und war bis 1946 die einzige politische Partei in der Türkei. Sie war inhaltlich sowie personell die direkte Nachfolgerin der bis 1923 aktiven jungtürkischen Partei, die unter anderen von deutschen Sozialdemokraten wie Friedrich Schrader beraten worden war. Nach dem Militärputsch von 1980 wurde die Partei wie andere auch verboten und geschlossen und viele der ehemaligen Mitglieder traten der neugegründeten Sozialdemokratischen Volkspartei (SHP) bei, deren Vorsitzender damals Erdal Inönü war. 1992 wurde wieder eine Cumhuriyet Halk Partisi gegründet, in die dann 1995 auch die SHP eintrat. Der letzte Ministerpräsident, der von der CHP gestellt wurde, war Bülent Ecevit.
Unter der Führung Deniz Baykals entfernte sich die CHP jedoch immer mehr von der Sozialdemokratie und rückte immer weiter nach rechts. Sie wurde dafür bereits mehrmals von der Sozialistischen Internationalen, des globalen Zusammenschlusses der sozialdemoratischen und sozialistischen Parteien, kritisiert. Deniz Baykal und seine Gefolgsleute sorgten dafür, dass sich in der CHP nationalistische und konservative Strukturen herausbildeten und damit verlor die Partei einen großen Teil ihrer Wähler unter den säkularen Türken, die sich inhaltlich und politisch dort nicht mehr repräsentiert sahen. Deniz Baykal war ein elitärer Führer, der die Entwicklung seines Landes nicht akzeptieren konnte. Es wurde lange ignoriert, dass die Menschen aus Anatolien inzwischen auch Zugang zu Bildung hatten und nach und nach der kemalistischen Elite das Heft aus der Hand zu nehmen in der Lage waren. Die politische Karriere von Ministerpräsident Erdogan ist das beste Beispiel dafür. Inzwischen stehen sich zwei Machteliten gegenüber, die zur Zeit ihren Kampf um den Kemalismus miteinander austragen,
Unter Kemalismus ist ein durch Atatürk geprägter Nationalismus zu verstehen, der sich gegen den Vielvölkerstaat wendet und nicht auf einer Rasse basiert. Jeder Bürger, der sich als Türke bezeichnete, wurde als solcher akzeptiert. Atatürks Nationalismus wollte dem Turanismus und dem Panislamismus damit eine Absage erteilen. Auch der Laizismus bedeutet in der Türkei die Nichteinmischung religiöser Würdenträger in staatliche Belange. Atatürk schaffte das Kalifat ab, vereinheitlichte das Schulwesen, verbot die Polygamie, verbot das Kopftuch, führte das lateinische Alphabet und den gregorianischen Kalender ein und verbot religiöse Parteien. Und hier scheiden sich nun die Geister bei der Änderung der türkischen Verfassung, die im Zuge der von der EU geforderten Reformen von der Regierung Erdogan derzeit angegangen wird. Deniz Baykal blockierte diese Verfassungsänderung.