Berlin, Deutschland (Weltexpress). Stimmen, die der Meinung sind, dass Politik nichts mit Moral zu tun habe und nicht mit moralischen Maßstäben gemessen werden dürfe, gibt es bis heute. Politik, so sagen diese Stimmen, sei ein Instrument der Interessendurchsetzung – und dabei dürfe (von manchmal bis in der Regel) durchaus der Zweck die Mittel heiligen.
Moralisten aller Zeiten haben diese Ansicht nicht geteilt. Von der antiken Tragödie über Friedrich Schiller bis in unsere Gegenwart gibt es sie, Menschen, die davor warnen, wohin die politische Amoral führt: in die Katastrophe.
Tragödiendichter der Antike glaubten noch, allein schon die Darstellung von Amoral und folgender Katastrophe auf der Bühne des Theaters, der dargestellte tiefe Fall des amoralischen Herrschers bewirke Katharsis, innere Reinigung, und Umkehr auf den Weg der Moral. Für die «kleinen Leute» mag das gegolten haben, leider aber nicht so oft für die Herrscher, welche die Theater ebenso besuchten. Noch aus der Zeit vor der Französischen Revolution wird davon berichtet, dass der Adel im Theater laut applaudierte, wenn seine Missetaten zur Darstellung kamen, an seiner Lebensweise aber gar nichts änderte. Heute wissen wir: Allein die Amoral anzuprangern macht die Politik nicht besser.
Von «Du sollst kein falsch Zeugnis reden wieder deinen Nächsten» …
Aber die Vernunft spricht dafür, dass kein Land auf Dauer mit der Lüge leben kann. Schon das 9. Gebot im Alten Testament lautet: «Du sollst kein falsch Zeugnis reden wider deinen Nächsten.» Das war keineswegs nur ein Gebot für ein gottgefälliges Leben, das einem den Platz im Himmel sichern konnte, sondern ein Verhaltensfundament für das diesseitige Zusammenleben – damals allerdings nur im Rahmen des eigenen Stammes. Gegenüber dem «Feind» galt das nicht.
… zum «Treu und Glauben»
Aber der Gedanke ist universell geworden: Wenn ich dem, was der andere sagt und tut, nicht mehr trauen kann, und wenn der andere nicht mehr das sagt und tut, was der Wahrheit entspricht – zumindest der Wahrheit, von der er selbst mit guten Gründen fest überzeugt ist –, dann geht ein Riss durchs Miteinander, der die Würde des Menschen nicht mehr achtet und das Miteinander zersetzt. Mit dem Grundsatz von «Treu und Glauben» («bona fides») wurde diese Grunderkenntnis in die Rechtslehre übernommen und gilt dort seit der römischen Republik. Wer das nicht achtet, denkt nicht über den Tag hinaus – weder in der Antike, noch vor der Französischen Revolution … und auch nicht in unserer Gegenwart.
Aber dass noch immer politisch gelogen wird, zeigen viele Beispiele. Ein paar wenige aus den vergangenen Monaten seien herausgegriffen.
Die politische Lüge heute: Beispiel 1 – Emmanuel Macron
Am 26. September 2017 hielt der französische Staatspräsident Emmanuel Macron eine vielbeachtete Rede. Er hatte als Ort der Ansprache die Universität Sorbonne in Paris gewählt, eine Stätte der Wissenschaft und der Wahrheitssuche. Sein Thema war der Zustand und die Zukunft der Europäischen Union. Seine Lüge begann schon im ersten Satz, als er von Europa sprach, aber die EU meinte. Und dann unterstellte er, es gäbe nur zwei Alternativen: Auf der einen Seite das supranationale Gebilde, das über viele verschiedene Namen zur Europäischen Union wurde – für Macron ein Ort der «brüderlichen Zusammenarbeit» und der «friedlichen Rivalität», der von Beginn an nur einem diente: dem «Versprechen auf Frieden, Wohlstand und Freiheit». Aber dieses Werk werde von der zweiten Alternative arg bedrängt: von «Nationalismus, Identitarismus, Protektionismus und Souveränismus durch Abschottung».
Dass dieses manichäische Europabild nur wenig mit der Wirklichkeit zu tun hat, störte Macron und seine Zuhörer nicht. Und man fragt sich: Wann wird endlich zur Kenntnis genommen, dass es viele Kritiker der EU und Befürworter souveräner Völker gibt, denen «Frieden, Wohlstand und Freiheit» oberste Anliegen sind und die mit den immer wieder gezeichneten Zerrbildern gar nichts zu tun haben? Wann, dass das Projekt eines supranationalen Europas aber nur bedingt mit Frieden, Wohlstand und Freiheit zu tun hatte? Mindestens genau so viel mit dem Kalten Krieg und den USA als Promotor eines supranationalen Europas. Ein Zitat von George F. Kennan, außenpolitischer Berater der damaligen US-Regierung, aus dem Jahre 1948 macht nachdenklich:
«Von nüchternem Machtdenken geleitet»
«Die USA besitzen etwa 50 Prozent des Reichtums der Welt, machen aber nur 6,3 Prozent der Weltbevölkerung aus. […] Unsere eigentliche Aufgabe in der vor uns liegenden Epoche ist es, ein Schema von Beziehungen zu entwickeln, das es uns ermöglicht, diese Position der Ungleichheit zu erhalten, ohne dass unsere nationale Sicherheit ernstlich gefährdet wird. Zu diesem Zweck müssen wir Schluss machen mit all den Sentimentalitäten und Tagträumen, unser Augenmerk muss immer und überall auf unsere unmittelbaren nationalen Ziele gerichtet sein. Wir sollten aufhören, von so vagen und unrealistischen Zielen wie Menschenrechten, Anhebung von Lebensstandrads und Demokratisierung zu reden. Der Tag ist nicht mehr fern, an dem unser Handeln von nüchternem Machtdenken geleitet sein muss. Je weniger wir dann von idealistischen Parolen behindert werden, desto besser.»
Emmanuel Macron ist kein Dummkopf. Er wird wissen, was er mit seiner Rede getan hat. Er hat gelogen. Wozu soll das gut sein?
Beispiel 2 – Wolfgang Ischinger
Ein zweites Beispiel: Wolfgang Ischinger, Vorsitzender der «Münchner Sicherheitskonferenz», hat der Januar/Februar-Ausgabe 2018 der Zeitschrift Internationale Politik (IP) ein längeres Interview gegeben. Die Zeitschrift IP wird von der halboffiziellen Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) herausgegeben. Die DGAP wird in Anklang an das Vorbild aus den USA auch German Council on Foreign Relations genannt. In diesem Interview behauptet Herr Ischinger wahrheitswidrig, der Westen und insbesondere Deutschland hätten nach dem Ende des Kalten Krieges bis 2014 immer wieder alles versucht, um gut mit Russland auszukommen – obwohl sich schon 2007 mit der Rede des russischen Präsidenten Putin bei der Münchner Sicherheitskonferenz, dann mit dem Georgienkrieg 2008 und schließlich 2014 in der Ukraine ein anderes Gesicht Russlands gezeigt habe. Bis heute sei die deutsche Außenpolitik um Verständigung bemüht. Deshalb seien die «Reparaturarbeiten» seit 2014 «angelaufen» – aber «bislang nicht erfolgreich gewesen». Das sei für Deutschland «eine der großen Herausforderungen, weil das Ziel, eine möglichst konfliktfreie Beziehung zu Russland herzustellen, ein Teil der deutschen Staatsräson ist.» Es gelte aber auch: «Die andere Seite muss es auch wollen, und im Augenblick will sie nicht.»
Es ist müßig, immer und immer wieder aufzuzählen, was Herr Ischinger auch dieses Mal wieder verschweigt: angefangen bei der auch westlich gesteuerten Demontage Russlands in den 90er Jahren und der Nato-Osterweiterung bis hin zum auch von Deutschland zielstrebig unterstützten Staatsstreich in der Ukraine. Warum spricht Herr Ischinger nicht darüber? Wohin soll das führen?
Beispiel 3 – Sondierungsvereinbarung von CDU, CSU und SPD
Damit sind wir beim dritten Beispiel: die Sondierungsvereinbarung von CDU, CSU und SPD vom 12. Januar 2018. Da heißt es auf Seite 25 im ersten Satz für den Bereich «Außen, Entwicklung und Bundeswehr»: «Deutsche Außenpolitik ist dem Frieden verpflichtet.» Weiter: «Wir setzen uns für eine dauerhaft friedliche, stabile und gerechte Ordnung in der Welt ein.» Man könnte zynisch werden in Anbetracht der Tatsachen. Oder nur staunen darüber, dass es mit der kommenden deutschen Regierung einen totalen Wandel gegenüber der Außenpolitik der vergangenen Jahre geben soll – wenn man den Worten trauen könnte. Aber warum wird auch hier wieder verschwiegen, was alles Teil deutscher Außenpolitik seit Ende der 80er Jahre war: ganz vorne mit dabei bei der Auflösung des ehemaligen Jugoslawiens, aktiv beteiligt am Aufbau der Terrororganisation UCK seit Mitte der 90er Jahre, federführend beteiligt am Knebelvertrag von Rambouillet Anfang 1999, Luftwaffenbeteiligung am völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien von März bis Juni 1999, aktive Beteiligung am US-Angriffskrieg gegen Afghanistan seit 2001, logistische Unterstützung des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs gegen den Irak im Jahr 2003 und so weiter und so fort – bis in unsere Gegenwart. Was sollen solche Lügen? Nehmen die Verfasser solcher Sätze wirklich an, man würde ihnen Glauben schenken?
Was ist der Preis der politischen Lüge?
Diese drei Beispiele mögen genügen. Jeder Leser wird weitere hinzufügen können. Sollen wir uns damit abfinden? Und welchen Preis werden wir dafür zu zahlen haben, wenn wir uns mit der politischen Lüge (wie so oft in der Geschichte) abfinden? Ein Blick in die Geschichtsbücher müsste doch ausreichen, um den Preis zu nennen.
Die Wahrheit ist anspruchsvoll. Die Suche nach ihr und das Bemühen um sie ist eine geistige und auch seelische Herausforderung. Vielen Wahrheiten können wir uns nur annähern; denn vieles wissen wir (noch) nicht. Wahrheitssuche ist eine Gemeinschaftsaufgabe. Studieren, zusammentragen, prüfen, diskutieren, korrigieren, ergänzen, erweitern und so weiter und so fort. Die Lüge ist hingegen einfach: Ich behaupte einfach etwas, das ich mir ausgedacht habe. Die Zwecke sind vielfältig. In der Politik geht es in der Regel um Macht und Herrschaft – und Interessen.
Ein moralisches Urteil über die politische Lüge hilft nicht weiter. Aber ein Nachdenken über die Folgen lohnt. Und dann die Gegensteuer.