Kathrin Schmidt mit „Du stirbst nicht“ bei Kiepenheuer & Witsch Preisträgerin – Serie: Die Verleihung des deutschen Buchpreises 2009 (Teil 1/3)

Die Gewinnerin des Deutschen Buchpreises 2009, Kathrin Schmidt. Den Preis erhielt sie am 12. Oktober 2009 im Kaisersaal des Frankfurter Römers für ihren Roman "Du stirbst nicht" (Kiepenheuer & Witsch).

Darunter neben den sechs für den deutschen Buchpries ausgewählten Autoren und Autorinnen Rainer Merkel, Herta Müller, Norbert Scheuer, Kathrin Schmidt, Clemens J. Setz und Stephan Thome, die Jurymitglieder Richard Kämmerlings (Literaturredakteur der Frankfurter Allgemeinen Zeitung), Michael Lemling (Geschäftsführer der Buchhandlung Lehmkuhl, München), Martin Lüdke (freier Literaturkritiker), Lothar Müller (Redakteur im Feuilleton der Süddeutschen Zeitung), Iris Radisch (Literaturredakteurin der ZEIT), Daniela Strigl (Literaturkritikerin und -wissenschaftlerin an der Universität Wien) und Jurysprecher Hubert Winkels (Literaturredakteur beim Deutschlandfunk). Diese hatten sich im Vorfeld über die Romane durchaus gestritten, kamen dann aber in ihrer Endabstimmung durch ein schlichtes Verfahren zum gemeinsamen, also einstimmigen Votum: Die Romane wurden noch einmal nicht nach ihren Stärken abgeklappert, sondern nach ihren Schwächen.

Und da zeigte sich wohl, daß Kathrin Schmidt mit „Du stirbst nicht“ inhaltlich und formal ein Meisterstück gelungen war, zu dem die Jury ausführte: „Der Roman erzählt eine Geschichte von der Wiedergewinnung der Welt. Silbe für Silbe, Satz für Satz sucht die Heldin, nach einer Hirnblutung aus dem Koma erwacht, nach ihrer verlorenen Sprache, ihrem verlorenen Gedächtnis. Mal lakonisch, mal spöttisch, mal unheimlich schildert der Roman die Innenwelt der Kranken und läßt daraus mit großer Sprachkraft die Geschichte ihrer Familie, ihrer Ehe und einer nicht vorgesehenen, unerhörten Liebe herauswachsen. Zur Welt, die sie aus Fragmenten zusammensetzt, gehört die zerfallende DDR, gehören die Jahre zwischen Wiedervereinigung und dem Beginn unseres Jahrhunderts. So ist die individuelle Geschichte einer Wiederkehr vom Rande des Todes so unaufdringlich wie kunstvoll in den Echoraum der historisch-politischen Wendezeit gestellt". Vorgeschlagen hatte das Buch Iris Radisch.

Aber noch sind wir am Anfang der Veranstaltung, die jedes Jahr in dramaturgisch geschickter Weise die fünfzig Minuten, die im Deutschlandfunk übertragen werden, nutzt. Erst einmal gab es brausenden Beifall für die Nobelpreisträgerin Herta Müller, der gar nicht abebben wollte und dies war eine der Fragen im Vorfeld, die die Meinungen polarisierten. Wäre es für die Jury möglich, nach dem Gewinn des Nobelpreises die Autorin mit ihrem Roman „Atemschaukel“, bei Hanser erschienen, nicht zur deutschen Buchpreisträgerin zu küren. Es war möglich, und daß dieses so selbstverständlich und ohne weitere Diskussion über die Bühne ging, spricht für ein neu erwachtes Selbstbewußtsein und gewonnene Souveränität der bundesdeutschen Literaturszene. Denn noch anläßlich der vorausgegangenen Lesung der Finalisten im September im Frankfurter Literaturhaus, also noch vor dem Nobelpreis, hatten schreiben müssen: „ Dies bedeutet für uns, daß man weder eine so weihevolle Würdigung des Buches von Herta Müller in einer Lesung vornehmen, noch es Herta Müller überhaupt zumuten sollte, dieses ihr und uns so sehr mit Oskar Pastior verbundene Buch überhaupt in eine Konkurrenzsituation zu stellen und gleichzeitig dauernd zu betonen, daß an ihr und diesem Buch kein Weg vorbeiführe und damit der Buchpreisträger, die Buchpreisträgerin schon feststehe. Das ist unfair in doppeltem Sinne: gegenüber Herta Müller und gegenüber den anderen fünf Autoren. Herta Müller hat ein Buch geschrieben, das einen Spezialpreis verdient, in Angedenken an Oskar Pastior, aber nicht vermengt werden sollte mit dem Deutschen Buchpreis, der geschaffen wurde, um die Vielfalt der deutschen Literatur aufzuweisen und für bessere Verkaufszahlen zu sorgen, auch im Ausland, was Übersetzungen angeht.“

Dann konnten wir in letzter Woche darauf verweisen, daß dieser „Spezialpreis“ für Herta Müller so glücklich mit dem Nobelpreis eintrat und aufrichtig gratulieren. Wir hatten allerdings nach dem Lesen aller sechs Bücher als dem eindringlichsten und mit unser aller Leben eng verwobenem Roman auf Kathrin Schmidt gesetzt und dazu geschrieben: „Fragt man uns, die wir also Herta Müllers Buch außer Konkurrenz sehen und sie für eine wunderbare Sprachspürerin halten, dann sind wir am meisten überrascht und angetan von „Du stirbst nicht“ von Kathrin Müller. Sie tritt in kein Fettnäpfchen, das dieses Thema von Wiedererweckung sonst bietet, und spricht mit so herrlicher Sprachkraft, findet solche Wörter und Sätze, die genauso ins Hirn schlüpfen wie unter die Haut gehen. Man hat beim Lesen dauernd das Gefühl: „Ja, das ist Leben. Im Guten wie im Schlechten“. Und man hat dauernd das Gefühl: „Ja, das ist Literatur. Das vermag Literatur.“

Aber noch immer spricht Gottfried Honnefelder und verweist auf andere nationale, einem ganzen Sprachbereich gewidmete Buchpreise und über den Wettbewerb um das beste Buch, was weder Glücksspiel noch sonstwas ist, sondern offen abläuft und damit selbst Gegenstand der Diskussion werde. „Wettbewerb – das wissen alle – tut weh und der Vergleich literarischer Werke im Blick auf einen ersten Platze erscheint vielen unangemessen und frivol”¦Auswahl ist nie wirklich gerecht, aber im Streit um Qualität ist sie nicht nur unvermeidbar, sondern auch gerechtfertigt, solange sie an nichts anderem als Maßstab der Qualität orientiert ist.“

Gert Scobel übernahm dann die Moderation, plauderte erst mit dem Jurysprecher Hubert Winkels und stellte dann durch Vorlesen der ersten Absätze der Bücher und einem kurzen Film über die Autoren, den die Deutsche Welle auf die jeweilige Person zugeschnitten sehr ansprechend rüberbrachte, die Bücher vor. Denn, das muß man immer wieder deutlich sagen, dies ist ein Preis für ein Buch, einen Roman und die Hervorbringer erhalten ihn und das Preisgeld von 25 000 Euro überreicht. Dagegen ist der Literaturnobelpreis eine Auszeichnung für ein Lebenswerk und viel persönlicher gemeint. Auch wenn diese Differenzierung notwendig ist, bleibt eine Tatsache erwähnenswert. Mit beiden Preisen sind zwei Frauen ausgezeichnet worden, die im Osten aufgewachsen sind und dort gelebt haben. Im Falle der Herta Müller, im deutschstämmigen Banat in Rumänien, im Falle der Kathrin Schmidt von Gotha aus quer durch die DDR. In Berlin leben heute beide.

Beide Bücher erzählen von der Herkunft, in dem nun preisgekrönten „Du stirbst nicht“ ist es Helene Wesendahl, die in Erinnerungsfetzen mit dem Aufbau ihres Lebens im eigenen Kopf und Herzen beschäftigt, auch ein Bild der DDR wiedererstehen läßt. Das ist nicht mehr als ein Nebenthema, aber eine Voraussetzung dafür, was die Wahrhaftigkeit dieses Buches ausmacht. Nichts zu beschönigen, aber auch nichts hinzuzuerfinden, um Leben und Lebenskrisen für andere verstehbar und nachempfindbar zu machen. Dennoch halten wir das ganz und gar nicht für selbstverständlich, daß im stark westgeprägten Literaturbetrieb der Bundesrepublik nun Kathrin Schmidt, mit einem solchen Buch ausgezeichnet wird, was in Verbindung mit Herta Müllers Nobelpreis uns geradezu sensationell ist. Umso netter, daß Börsenvorsteher Gottfried Honnefelder , „das für ganz normal hält“. Mit diesem, dem fünften Buchpreis hat tatsächlich die Literatur selbst den Preis gewonnen.

Kathrin Schmidt nahm ihn gelassen entgegen und brachte noch mit ihrer Bemerkung, daß sie sich noch mehr über den Nobelpreis für Herta Müller freue, als jetzt über diesen für sie, auch die auf ihre Seite, denen sie noch nicht bekannt war. Denn, das muß man wirklich noch einmal deutlich sagen, obwohl sie zuerst als Lyrikerin und dann mit ihren Romanen ihre Aussagekraft wiederholt bewiesen hat, zählte sie nicht zu den bekannten Köpfen der literarischen Szene. Auch in dieser Situation behielt sie den Überblick und verglich – sozusagen methodisch – das Buch mit ihrem eigenen Leben. Sie sei als Sportler in der DDR eine Katastrophe gewesen, erst recht als Sprinter, nur als Dauerläufer habe sie sich einen Namen gemacht. Typisch dabei der Sprachgebrauch der männlichen Form für Frauen in der DDR. Als ihr Buch im Frühjahr erschien, sei es sehr zögerlich angelaufen, habe dann Fahrt aufgenommen und jetzt wünsche sie dem Buch, daß es von ihr lerne. Also nicht „Lola rennt“, sondern „Helene rennt“.

Das wird auf dem deutschen Markt sicher eintreten, denn darin erweist sich die Einrichtung des Preises und seine öffentliche Abfolge von der Langen zur Kurzen Liste und der Preisvergabe so wie gewollt als verkaufsfördernd. Hoffen wir, daß auch die Lizenzverträge mit ausländischen Verlagen ins Rollen kommen, denn die bisherigen preisgekrönten Bücher konnten diese weitere Begründung für die Einrichtung eines Deutschen Buchpreises gut erfüllen: deutsche Literatur im Ausland wieder populär zu machen, wie sie es übrigens in den Zeiten eine Böll und Grass schon einmal war.

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Info:

Die Liste der nominierten Romane in alphabetischer Reihenfolge und ihrem jeweiligen Erscheinungsdatum sind:

– Rainer Merkel, „Lichtjahre entfernt“ im Fischerverlag, März 2009

– Herta Müller, „Atemschaukel“ beim Verlag Hanser, August 2009

– Norbert Scheuer, „Überm Rauschen“ im Verlag Beck, Juni 2009

– Kathrin Schmidt, „Du stirbst nicht“ im Verlag Kiepenheuer & Witsch, Februar 2009

– Clemens J. Setz, „Die Frequenzen“ im Residenzverlag, Februar 2009

– Stephan Thome, “Grenzgang” beim Suhrkampverlag, August 2009

Weitere Informationen und Termine des Preisträgers rund um die Frankfurter Buchmesse können abgerufen werden unter www.deutscher-buchpreis.de.

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