Abbey Lincoln wurde als Anna Maria Wooldridge als zehntes von zwölf Kindern am 6.8.1930 in einer schwarzen Familie in Chicago/Illinois geboren und zog schon bald mit ihren Eltern in die Provinz um. Schon die frühen 50er jedoch fanden sie als Barsängerin in Honolulu. 1959begann ihre Schallplattenkarriere, die mit ca. 25 Alben bis 2007 dauerte. Bereits ihre erste Aufnahme 1956 (“Affair – A Story of a Girl in Love”) sah sie an der Seite eines so führenden Jazzmusikers der damaligen Zeit wie des Saxophonisten, Trompeters und Bandleaders Benny Carter. Auch in den folgenden Jahrzehnten sollte sie bei ihren Aufnahmen von der Crème de la Crème der Jazzinstrumentalisten umgeben sein. Genannt seien Coleman Hawkins, Eric Dolphy, Mal Waldron, Booker Little, Clark Terry, Kenny Dorham, Sonny Rollins, Wynton Kelly, Benny Golson, Jackie McLean, Ron Carter oder Charlie Haden.
Von besonderer Bedeutung für ihren persönlichen und künstlerischen Werdegang jedoch war die Zusammenarbeit mit dem Bebop- und Hardbop-Schlagzeuger Max Roach. Mit seiner Band spielte sie von 1957 bis 1959 drei ihren besten Alben bei `Riverside’ ein. Durch ihn beeinflusst begann sie, in Hinblick auf den musikalischen Gehalt und die Texte wählerisch bei ihrem Repertoire zu werden. Ein weiterer Höhepunkt ihres Wirkens in dieser Zeit war das Album der Max Roach-Combo “We Insist – Freedom Now Suite”, in der sie in dramatischer Weise Texte des Songschreibers und Sängers Oscar Brown Jr. sang. 1962 heirate sie Max Roach, aber die Ehe – ihre einzige – hielt nur bis 1970. In den 60er Jahren hate sie Probleme, Gigs zu bekommen, weil sie – auch in ihren Songs – allzu offen politisch Position für die Befreiung der US-amerikanischen Schwarzen von rassistischen Unterdrückung bezog. 1961 hatte sie ebenfalls mit ihrem zukünftigen Ehemann zusammen den Song “Retribution”(Vergeltung) aufgenommen, was einen prominenten Kritiker dazu veranlasste, sie in der Presse als “Berufs-Neger” abzuwerten. Zwischen 1962 und 1972 nahm sie keine Platten auf. Zu ihren wichtigen Platten der Zeit seitdem gehören die beiden 1987 veröffentlichen Tribut-Alben für ihr großer Vorbild, Billie Holiday. Ihr letztes Album “Abbey sings Abbey” erschien 2007. Obwohl zu diesem Zeitpunkt – wie übrigens auch im Falle der Billie Holiday – ihre Stimme schon deutlich an Sicherheit und Volumen verloren hatte, traf noch immer die Einschätzung eines Rezensenten von <allmusic.com> zu: “Weil sie soviel Überlegung in jede ihrer Aufnahmen steckt, ist es keineswegs zu viel gesagt, dass jede Aufnahme von Abbey Lincoln es wert ist, besessen zu werden.”
Abbey Lincoln, die nicht wie etwa Sarah Vaughn mit einer großen Stimme gesegnet war, sondern auch in dieser Hinsicht eher Billie Holiday ähnelte, war dieser besonders nahe durch die Bedeutung, die ihr Gesang jedem der Worte des jeweiligen Songs verlieh. Als wohl die beste Vokalinterpretin des auf den ersten Blick gegenüber dem Bebop vereinfachten und sich unmittelbarer auf die volkstümliche Musik der schwarzen Community (Blues, Gospel) beziehenden Hardbop, brillierte sie weniger durch eine selbstverständlich von ihr beherrschte Gesangstechnik als vielmehr durch die Intensität des Ausdrucks, das A und O des gesamten Jazz, der seinen Namen wert ist.
Davon sicher nicht zu trennen war ihre Karriere zunächst als Schauspielerin und dann in den letzten beiden Jahrzenten als Komponistin und Texterin ihrer eigenen überaus intelligenten Musik.1964 debütierte sie in dem Film “Nothing but a Man”, erhielt den `Golden Globe’ für ihre Rolle an der Seite von Sidney Poitier in dem 1968 gezeigten Film “For Love of Ivy” und spielte schließlich 1990 in Spike Lee’s Film “Mo’ Better Blues” die Mutter des Haupthelden, die ihn zum fleißigen Trompete-Üben zu Hause anhält. In den 60er und 70er Jahren tratsie außerdem in einer Reihe von TV-Filmen auf.
Mit Abbey Lincoln hat die schwarze Community in den USA eine hervorragende Sprecherin, und der Jazz-Gesang insbesondere in einer Zeit, wo dieser allzu oft durch Sängerinnen mit dünnen Stimmchen und der Ausstrahlung von Kind-Frauen repräsentiert wird, eine seiner prägenden Gestalten verloren. Dass sie in jedem Alter eine Schönheit war, war zunehmend Resultat ihrer intellektuellen und moralischen Persönlichkeit.