Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die meisten westdeutschen Autoren, die über die Nachfahren der DDR schreiben, tun dies mit einer kolonialherrlichen Attitüde. Das ist bei Hubertus Knabe nicht anders, der meint, sich wegen der „falschen“ Wahlentscheidungen der Angeschlossenen zu Wort melden zu müssen.
Irgendwie hat es auch sein Gutes, dass die militantesten Propagandisten des Westens, zu denen Hubertus Knabe ohne jeden Zweifel zu zählen ist, meinen, die beste Methode, die bösen Ostdeutschen von ihren politischen Irrwegen abzubringen, sei, sie möglichst lautstark zu beleidigen. Der Erfinder des DDR-Gruselkabinetts, auch bekannt als „Gedenkstätte Berlin-Schönhausen“, verwendet einen ganzen Artikel darauf, zu behaupten, die Bürger der DDR hätten allesamt an einem Stockholm-Syndrom gelitten und sich „mit ihren Unterdrückern identifiziert“.
Man kann das natürlich auch mit Humor nehmen, schließlich wäre eben dieses Stockholm-Syndrom fast die einzig denkbare Entschuldigung für die gegenwärtige Bundesregierung, würde man sie eines Tages für die begangenen Untaten vor Gericht stellen, als psychiatrische Ausrede, warum sie völlig unfähig waren, die Sprengung von Nord Stream als einen Angriff zu begreifen, denn von den guten US-Amerikanern könne nur Gutes ausgehen…
Knabe gönnt dem Publikum eine lange Litanei, wie sehr doch die „Verbrechen der Roten Armee“ in der DDR verschwiegen worden seien. Man ist versucht, ihm das Stichwort „Rheinwiesenlager“ links und rechts um die Ohren zu hauen, ein klein wenig darauf zu verweisen, dass die Kriegsführung der Westalliierten mit großflächigen Bombardements von Wohngebieten auch damals ein Kriegsverbrechen war, und dass die krönende Kirsche auf dieser Torte dann die Wiederinthronisierung der Nazieliten unter Adenauer war, die man ebenfalls als freundliches Geschenk der US-Amerikaner betrachten sollte (von Kleinigkeiten wie der deutschen Spaltung ganz abgesehen), aber das wäre im Grunde gar nicht nötig.
Das beklagte Schweigen ist nur noch entfernte Erinnerung älterer Mitbürger, denn seit 1990 braucht man im Grunde nur noch den Fernseher anzuschalten, um regelmäßig mit Berichten berieselt zu werden, die betonen, wie grauenvoll doch die DDR war. Außer natürlich, es kommt gerade ein neuer PISA-Bericht, und man muss wieder einmal kleinlaut zugeben, dass das Bildungssystem der Finnen, das ständig weit oben liegt, eine Kopie desjenigen der DDR war.
„Sowjetische Fremdherrschaft über Ostdeutschland“, wirklich? Wie bitte bezeichnet er dann den heutigen Zustand der Bundesrepublik? „Im Westen ist vielen dagegen bis heute bewusst, dass sie ihre Freiheit nur der Stärke der NATO und der Unterstützung der USA im Ost-West-Konflikt zu verdanken haben.“
Wenn man jahrzehntelang sein Brot mit politischer Denunziation verdient, schlägt das irgendwann auf den Charakter. Wäre Knabe tatsächlich der Historiker, der zu sein er behauptet, müsste er irgendwann auch über solche Dinge wie den Artikel 131 Grundgesetz gestolpert sein, der die Nazibeamten wieder in Amt und Würden brachte. Hundertfach, tausendfach Personen, die an schwersten Verbrechen beteiligt waren oder diese sogar befehligt haben, siehe Theodor Oberländer. Er hätte, wäre er nicht völlig in seinem Auftrag, die DDR in den allerschwärzesten Farben zu zeichnen, irgendwann auch auf so unangenehme kleine Details in Deutschland West gestoßen, wie die Zustände in Kinderheimen.
In denen übrigens, Bemerkung am Rande, sehr häufig sogenannte „Besatzungskinder“ landeten, die Kinder schwarzer US-Soldaten, die bis gegen Ende der 1960er von den Jugendämtern ihren Müttern entrissen wurden, sofern die Väter zurück in die Staaten gingen. Und wer weiß, dass es tatsächlich ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts gab, in dem festgelegt wird, wie dick ein Gummischlauch sein darf, mit dem ein Vater sein Kind schlägt, dem wird ganz schwummrig angesichts der Verherrlichung des deutschen Westens durch den Herrn Knabe.
Nun mag ja ein Historiker ein Fachgebiet haben und ansonsten völlig blind sein für andere Informationen. Und sicher wäre es seiner Karriere nicht zuträglich gewesen, wahrzunehmen, dass die Insassen der von ihm so hervorgehobenen sowjetischen Speziallager tatsächlich überwiegend Naziverbrecher waren, ja, eben jene Leute, die unter der schützenden Hand der Vereinigten Staaten in der Bundesrepublik wieder Kommissare, Richter, Studienräte, Professoren und Minister wurden, während in den Rheinwiesenlagern eher die gewöhnlichen Soldaten krepierten, weil man SS und Offiziere sehr bald zur weiteren Verwendung gut unterbrachte.
Aber auch das ist nicht der Punkt, denn wir reden von der Vergangenheit, über die man unterschiedliche Ansichten haben kann, denen man allerdings immer hinzufügen sollte, dass diese Ereignisse alle noch viel zu nah liegen, um sie wirklich bewerten zu können. Mehr noch – die wirkliche Erzählung, welcher Teil Deutschlands nun wie besetzt und wie souverän war oder ist, kann erst geschrieben werden, wenn die letzten Teile Besatzung entfernt sind, nämlich all die Zweigniederlassungen der US-Armee, die ganzen Kommandozentralen, EUCOM, CENTCOM, AFRICOM; wenn sie weg sind, und die unzähligen NGOs, Stiftungen et cetera, die diese Interessen vertreten; wenn endlich offen darüber gesprochen werden kann, was ab 1990 tatsächlich geschehen ist, eingeschlossen die massive Enteignung der Bevölkerung der DDR, eingeschlossen die Entwertung sämtlicher Berufsabschlüsse, eingeschlossen die volle Aufklärung über die eigenartige Anhäufung politischer Morde, die die weitere Entwicklung verzerrten.
Alles nicht Knabes Auftrag. Sein Auftrag ist die Spaltung. Und die Behauptung von „Moskaus brutalem Imperialismus“. Selbst wenn er am Ende seines Artikels schreibt, „das verloren gegangene Vertrauen lässt sich nur durch eine Politik zurückgewinnen, die Probleme löst statt sie zu tabuisieren“ – der Mann ist grün. Die Kriegspolitik ist ihm kein Problem. Und er hat das US-Gepose vollständig verinnerlicht, in ihm gibt es nicht den geringsten Raum für Zweifel, kein Vietnam, kein Abu Ghraib, und man geht sicher nicht fehl, dass nicht einmal der live übertragene Genozid in Gaza den leisesten Wellenschlag auf seinem bergseetiefen Glauben an die Vereinigten Staaten von Amerika verursachen kann: „Im fairen Streit um die besseren Konzepte dürften auch die Wähler von AfD, BSW und Linken erkennen, dass der ehemalige KGB-Offizier Putin am Ende nur durch Stärke zu beeindrucken ist.“
Das klingt, als habe er zu viele James-Bond-Filme gesehen und nicht einmal John le Carré gelesen. Dabei müsste er es in mehrfacher Hinsicht besser wissen.
In Knabes Wikipedia-Biografie steht, er habe 1992 „aus seiner Stasiakte“ erfahren, dass ein Freund über ihn berichtet habe, und: „von da an widmete sich Knabe der Enttarnung oder Bloßstellung früherer MfS-Spitzel“. Das ist eine extreme Schieflage. (Ich hätte auch gerne 1992 in meine Akte gesehen, aber die lag (mindestens) beim Bayrischen Landesamt für Verfassungsschutz, und dessen Akten sind, wie die aller anderen Verfassungsschutzämter, die des BND und die des MAD eben nicht 1992 zugänglich gewesen, und selbst heute gäbe es da bestenfalls geschwärzte Seiten.) Wer weiß, wie viele sonst im Westen begonnen hätten, sich „der Enttarnung oder Bloßstellung“ von Verfassungsschutzspitzeln zu widmen.
Da bleibt im Hinterkopf nur immer diese ungeheuerliche Zahl aus dem NSU-Prozess über den „Thüringer Heimatschutz“, 40 Mitarbeiter irgendwelcher Dienste unter 120 Personen. Eine wirklich atemberaubende Dimension, die man nicht ernst genug nehmen kann, und das schon vor der Erfindung all dieser grünen Nebengeheimdienste.
Die ganze Geschichte, die Knabe erzählt, mit der er sein ganzes Leben verbracht und finanziert hat, auf durchaus angenehmem Niveau und als umworbener Experte, funktionierte immer nur, weil die andere Seite fehlt. Weil eben die Westakten nicht für eine wirkliche Bewertung zur Verfügung stehen. Einzelne Punkte machen es dennoch klar, dass dieses Schwarz-Weiß-Bild, das Knabe mitzuzeichnen half, nicht stimmen kann. Briefe, die von Ost nach West gingen und umgekehrt, wurden immer dreimal gelesen. Einmal im Osten, einmal im Westen, und zuletzt erst vom Empfänger.
Wobei man im Rückblick zugeben müsste, dass auch da vieles schlicht Ergebnis dieser Frontstellung war, der Tatsache, dass die Grenze zwischen beiden deutschen Staaten nicht nur dies, sondern auch die eingefrorene Frontlinie des Kalten Krieges war, ein Weltkrieg in Wartestellung, der ein wirklich ziviles Leben auf beiden Seiten erschwerte. Man könnte auch erkennen, dass nichts verheerender für die Zukunft eines Landes ist, als dauerhaft eine Trennlinie zwischen Siegern und Besiegten zu etablieren. In gewisser Weise sind es Leute wie Knabe, die dafür gesorgt haben, dass es beinahe schon wieder zwei Länder sind.
2007 hat Knabe gefordert, die Rosenholz-Dateien sollten veröffentlicht werden. Dabei handelte es sich um mikroverfilmte Akten des Ministeriums für Staatssicherheit, die allerdings nicht unmittelbar in deutschen Archiven landeten; sie befanden sich zuvor in den Händen der CIA. Auch wenn die öffentliche Erzählung behauptet, sie seien von der CIA selbst „erbeutet“ worden, ist dies falsch. Zuerst hatte sie der BND; er hat sie aber, ohne sie zu kopieren, an die CIA weitergegeben. Der Grund, warum die CIA an diesen Akten überhaupt interessiert war, war nicht, dass sich daraus Informationen für mögliche Erpressungen ziehen ließen (das sicher auch); viel entscheidender war, dass die Hauptverwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit auch daran gearbeitet hatte, US-Agenten in der Bundesrepublik zu identifizieren. Diese Liste wäre im Ringen um deutsche Souveränität der Joker gewesen. Das, was die CIA letztlich an Deutschland zurückgab, und was zu veröffentlichen Knabe forderte, enthielt diese Informationen selbstverständlich nicht mehr.
Knabe hat, zusammen mit Joachim Gauck und in der Folge Marianne Birthler, letztlich nach Kräften dafür gesorgt, den Blick nur auf jene Akten zu lenken, die für die Eliten des Westens völlig ungefährlich sind. Weder die Akten der Ermittlungen der DDR-Behörden zu Naziverbrechen, die ebenfalls in der Gauck-Behörde verschwanden, noch die so zentrale Agentenliste waren ihm je eine Erwähnung wert.
Allerdings stellt sich, wenn man die Karriere von Knabe betrachtet, durchaus auch die Frage, ob er nicht noch andere Auftraggeber hatte als die Bundesrepublik. Er war 1988 Leiter der evangelischen Akademie in Westberlin. Das bedeutet, sein damaliger Arbeitgeber war die evangelische Kirche. Er saß aber auch auf einer Stelle, die für die politischen Angriffe auf die DDR nicht ganz unwichtig war, oder vielmehr, die eines der Scharniere darstellte, über das die dafür erforderlichen Kontakte geknüpft werden konnten. Was bedeutet, dass er mit Sicherheit regelmäßige Kontakte zum BND hatte. Was aber ebenfalls bedeuten kann, dass er mindestens Kontakte zur CIA hatte. Wenn nicht mehr.
Dann wäre das, was er in den letzten Jahrzehnten getrieben hat, und was er in seinem Artikel noch einmal so eindringlich darstellt, kein Ergebnis eines Stockholm-Syndroms, sondern schlicht die Arbeit eines langjährigen Bediensteten im Interesse seines Auftraggebers.
Anmerkungen:
Vorstehender Beitrag von Dagmar Henn wurde unter dem Titel „m Westen nichts Neues: Hubertus Knabe und das Stockholm-Syndrom“ am 15.7.2024 in „RT DE“ erstveröffentlicht. Die Seiten von „RT“ sind über den Tor-Browser zu empfangen.
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