Am Anfang war, wie die Tänzerin Ulrika Kinn Svensson zu Beginn mitteilt, nicht das Wort, sondern die Geste. Die Menschen verständigten sich durch Gebärden. Die nach oben gekehrte Handfläche bedeutete: vergib mir. Missverständnisse waren bei dieser Art der Kommunikation nicht auszuschließen, denn die so ausgestreckte Hand konnte ebenso gut die Forderung ’gib mir’ ausdrücken.
Die Missverständnisse führten dazu, dass die Menschen sich voneinander abgrenzten, sich eigene Territorien schufen und diese gegen Eindringlinge verteidigten. Eine Gruppe von Tänzern hockt nebeneinander auf dem Boden, jeder von ihnen breitet die Arme aus, um den Raum um ihn herum in Besitz zu nehmen und seinen Nebenmann bei Seite zu drängen.
Aus den imaginären werden reale Räume. Bühnenbildner Antony Gormly hat für diese Produktion riesige Quader aus Metallrahmen in unterschiedlichen Größen kreiert. Daraus bauen die Tänzerinnen und Tänzer Häuser, eine ganze Stadt und auch den in den Himmel aufragenden Turm.
In den Quadern wird getanzt, Tänzer klettern an den Rahmen hinauf, ein Quader dient als Gefängnis, in dem ein Tänzer rebelliert und sich in Zorn und Verzweiflung gegen die imaginären Wände wirft.
Immer wieder werden die Quader beiseite geräumt, um Platz zu schaffen für die Bewegung, eine einzigartige Kombination von Tanz, Pantomime und Kampfkunst.
Auf einer Empore über der Bühne sitzen die fünf MusikerInnen, die das Geschehen mit avantgardistischen und traditionellen Klängen aus verschiedenen Kulturkreisen begleiten, vorantreiben und gesanglich kommentieren.
Das gesprochene Wort spielt eine wichtige Rolle in dieser Produktion. Darryl E. Woods erklärt die englische Sprache zur Universalsprache und alle Menschen, die kein Englisch können, zu Analphabeten, woraufhin heftiger Widerspruch auf französisch, russisch und japanisch erfolgt.
Die 15 auf der Bühne hörbar werdenden Muttersprachen lassen das ganze Ausmaß an menschlicher Verwirrung und Vereinzelung deutlich werden. Die Kostüme von Alexandra Gilbert repräsentieren eindrucksvoll die vielfältigen Moden unterschiedlicher Kulturen und Jahrhunderte.
Die Hybris der Menschen zeigt sich nicht nur im Turmbau, sondern auch in der Erschaffung von ihresgleichen, menschenähnlichen Robotern mit mechanischen Stimmen und eckigen Bewegungen, seelenlosen Maschinen ohne Verstand.
In einer wundervoll komischen Szene wird Ulrika Kinn Svensson als Puppe in schwarzen Latexhosen und hohen Stiefeln von zwei Japanern neugierig untersucht und schließlich aufgeblasen. Sie schwillt an durch die einströmende Atemluft, fliegt, und, während die Luft geräuschvoll wieder entweicht, schrumpft die Puppe taumelnd zusammen.
Neben Entfremdung und Krieg gibt es immer wieder die Suche nach Gemeinschaft und Nähe. Die Tänzerinnen und Tänzer finden sich in rasendem Tempo zu Gruppierungen zusammen, die sofort wieder auseinander fallen, und sie suchen als Einzelne nach Vertrautheit und Liebe.
Francis Ducharme fällt beim Balzverhalten in bestialische Urmenschenattitüden zurück. Eine Frau und ein Mann berühren sich ganz zart mit den Fingerspitzen, erzeugen Wärme und Erotik, die ihre Körper erfasst und zusammen führt.
Darryl E. Woods, ebenso grandios als Tänzer wie als Entertainer, erklärt das „Gandhi-Neuron“, durch das alle Menschen miteinander verbunden sind, eine Einheit bilden, getrennt nur durch ihre Haut.
Am Schluss gelingt das Experiment der Gemeinsamkeit. Die 13 TänzerInnen, in einer Reihe nebeneinander, haken ihre Füße um die Knöchel der neben ihnen Stehenden und bewegen sich dann als Ganzes langsam vorwärts. Das sind die ersten Schritte einer Menschheit, die ihre Zusammengehörigkeit entdeckt hat und in der Alle sich der Verantwortung für einander bewusst sind.
Vor zwei Jahren wurde Sidi Larbi Cherkaoui für sein Stück „Sutra“ mit Shaolinmönchen im Haus der Berliner Festspiele begeistert gefeiert. Auch das diesjährige Gastspiel „Babel (words)“ von Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet mit einem großartigen Ensemble war ein grandioses Ereignis bei der spielzeit’europa und wurde vom Publikum mit Standing Ovations und riesigem Applaus bejubelt.
„Babel (words)“ von Sidi Larbi Cherkaoui und Damien Jalet, uraufgeführt im April 2010 in Brüssel, war vom 09.-12. Dezember bei der spielzeit’europa 10 im Haus der Berliner Festspiele zu erleben.