Berlin, Deutschland (Weltexpress). Die Sollbruchstellen für die NATO liegen offen zutage. Sie sind kein Geheimnis, auch wenn die Staats- und Regierungschefs der Mitgliedsstaaten diese dazu hochstilisieren. Es fängt damit an, dass die sicherheitspolitischen Richtlinien für den amerikanischen Präsidenten den Einsatz der Streitkräfte völlig losgelöst von der Charta der Vereinten Nationen vorsehen.
Das rechtliche Niveau von 1939 ist für die Vereinigten Staaten der Normalfall, obwohl nach der Charta der Vereinten Nationen Krieg als Konsequenz aus zwei verheerenden Weltkriegen geächtet werden sollte. Der Einsatz militärischer Mittel sollte strikt an Beschlüsse des Sicherheitsrates der Vereinten Nationen und generell an die Charta als Recht auf Selbstverteidigung gebunden sein. Organisationen wie die NATO sollten nach der Charta der Vereinten Nationen nur innerhalb des Völkerrechtsrahmen der Vereinten Nationen zulässig sein.
Jedem ist klar, dass diese Postulate und die amerikanische Machtfülle die Mitgliedsstaaten der NATO geradezu zerreißen. Sie müssen bei Kriegen im amerikanischen Interesse entweder mitmachen oder laufen Gefahr, in ihrer Substanz vernichtet zu werden, Völkerrecht hin oder her. Spätestens seit dem völkerrechtswidrigen Krieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien ist jederman vor Augen geführt worden, was das bedeutet.
Die Vereinigten Staaten führen aus zwei Gründen Krieg: der globalen Machtausdehnung soll sich niemand mehr in den Weg stellen können. Daneben soll der bisherige Dauerkrieg sicherstellen, dass niemand die politisch/militärische Führung der Vereinigten Staaten nach den Kriterien der „Prozesse von Nürnberg“ jemals würde zur Verantwortung ziehen können.
Diese „Pudel-Situation“ der Mitgliedstaaten der NATO in ihrer Abhängigkeit von den Vereinigten Staaten wird an einer Frage besonders augenfällig: der Beistandspflicht nach dem NATO-Vertrag. Bereits jetzt kann man für das Londoner Gipfeltreffen der NATO heute und morgen lesen, dass man die Beistandspflicht zu bekräftigen denke. Was besagt die eigentlich anders als die Festschreibung amerikanischer totaler Handlungsfreiheit?
Eine wahre Beistandspflicht gab es im Vertrag der inzwischen nicht mehr existenten „Westeuropäischen Union“. Danach war klar festgeschrieben, wie im Falle eines militärischen Angriffs auf ein Mitgliedslands zu verfahren sei. Eine militärische Antwort war danach unausweislich. Dem entspricht nicht die NATO-Vorgehensweise. Danach ist alles möglich zwischen Beileidsbekundungen, eben Pech gehabt zu haben, bis hin zur Anwendung militärischer Gewalt.
Gerade die jederzeit gegen die Russische Föderation auf Krawall gebürsteten osteuropäischen Staaten sollten sich dieses Umstandes in ihrer praktischen Politik gewusst werden. Randale ist das eine, allerdings wird Randale dann, wenn es darauf ankommt, selten eingelöst. Die amerikanischen Interessen bestimmen das Geschehen, auch bereits in dem Stadium, in dem die öffentliche Meinung in den Mitgliedsstaaten auf Siedehitze gebracht wird. Dieses Gipfeltreffen heute und morgen in London ist bereits jetzt eine „sicherheitspolitische Totgeburt“. Deutlich wird das an zwei Umständen: die gewaltige Höhe der Militärausgaben, denen kein anderer Staat auf dem Globus etwas entgegenzusetzen hat und die immer noch weiter steigen sollen. Damit wird den zivilen Zielen der nationalen Gesellschaften die Luft genommen, für Klimaschutz bis hin zu sozialen Mitteln oder Schwerpunkten bei Zukunftsforschung das zukommen zu lassen, was dringend geboten ist.
Nach zwanzig Jahren seit dem Ende des ersten Kalten Krieges kann man eines zur NATO getrost sagen: außer dem Dröhnen von Panzerketten kann sie nichts. Nur noch diejenigen, die den Kalten Krieg erlebt haben, können von einem „Harmel-Bericht“ und dem Eingehen auf die Helsinki-Prozesse des Jahres 1975 träumen. Außer Aufrüstung und völkerrechtswidrige Kriege führen kann diese NATO nichts. Wie sollte sie auch?
Die Russische Föderation will Kooperation und Teilhabe an der gemeinsamen Sicherheit und genau das wollen die angelsächsischen Dominanzmächte der NATO unter keinen Umständen hinnehmen. Folglich wird hochgerüstet auf „Deibel komm raus“, weil friedliche Beziehungen zur Russischen Föderation oder gar das „gemeinsame europäische Haus“ bei der Anlage der angelsächsischen Politik unmöglich sind. Das Fehlen von überzeugenden Verständigungskonzepten sagt mehr als tausend Worte und macht nur die Zwangslage westeuropäischer Staaten in der NATO im Sinne von potenzierter Ohnmacht deutlich.
London heute und morgen mahnt auch an die Gründungsgeschichte der NATO mit dem berühmten Ausspruch des ersten NATO-Generalsekretärs, Herrn Ismay. Danach bestand das Credo der NATO als Konsequenz der alllierten Politik seit dem gegen Deutschland losgetretenen Ersten Weltkrieg darin, „die Amerikaner in Europa zu verankern, die Deutschen zu kujonieren und den Russen den Zugang zu Europa zu verweigern“.
Der UN-Generalsekretär Gutteres hat vor wenigen Tagen über das Schwinden globaler amerikanischer Macht in Berlin gesprochen. Bedeutet das nun für die NATO, auf ihre Rolle gegenüber Deutschland zu verzichten und Russland die europäische Teilhabe zur Friedenssicherung zu ermöglichen? Der französische Staatspräsident Macron denkt in diese Richtung, was Russland anbelangt. London ist allerdings sei Charles de Gaulle im letzten Weltkrieg und Lord Millner aus der Zeit der Jahrhundertwende der völlig falsche Ort für Friedenskonzepte.