Andreas Kriegenburg hat sich mit Heinrich von Kleist sehr wahrhaft und eindrucksvoll auseinandergesetzt in der Inszenierung „Der Prinz von Homburg“ 2009 am Deutschen Theater. Der Prinz ist hier, ähnlich wie sein Schöpfer, ein egomaner Schwärmer, der sich, wie Kleist selbst, euphorisch in den Tod verliebt. Das Stück, vielseitig interpretierbar, wegen seiner vaterländischen Töne von den Nationalsozialisten vereinnahmt, wurde unter Kriegenburgs Regie zu einem bewegenden Antikriegsstück.
Wie mit dem Prinzen von Homburg hat Heinrich von Kleist sich auch mit seinem Käthchen identifiziert und sich zugleich mit diesem hingebungsvollen, naiven Geschöpf die ideale Geliebte kreiert.
Prof. Dr. Ortrud Gutjahr, Professorin für Neuere deutsche Literatur und Interkulturelle Literaturwissenschaft an der Universität Hamburg, deren Essay über „Das Käthchen von Heilbronn“ als Originalbeitrag im Programmheft abgedruckt ist, bezeichnet das Stück eher als ein Märchen- denn ein Ritterschauspiel. Sie schreibt: „(…) Das Stück folgt bei allen Verwicklungen und Nebenschauplätzen einem denkbar einfachen Handlungsmuster, das für eine Inszenierung mit einem Puppentheater geeignet wäre oder Kindern, die sich über eine Kiste mit Ritterkostümen hermachen, für ein lustvolles Rollenspiel taugen könnte. (…)"
Es liegt nahe, sich zu fragen, was in dem Dichter vorgegangen sein mag, als er dieses Drama zu Papier brachte. Andreas Kriegenburgs Inszenierung erlaubt Einblicke in die Werkstatt des Dramatikers. Gleich sechs Kleists erträumen, erleiden, erkämpfen und erschreiben sich hier die wundersamen Abenteuer der 15jährigen Tochter eines Heilbronner Waffenschmieds, die unbeirrbar dem Ruf ihres Herzens folgt.
Die sechs Kleists lassen an die acht Josef K.s in Kriegenburgs erfolgreicher Kafka-Adaption denken, und auch die Leichtigkeit, mit der sich die Inszenierung am Rande von sehr wohl spürbaren Abgründen bewegt, zeigt den Regisseur in Bestform.
In seiner Textfassung hat Kriegenburg Auszüge aus Briefen und Aufzeichnungen von Heinrich von Kleist in das gekürzte Schauspiel hineingearbeitet. Der Dichter kommentiert sein Werk während es entsteht oder plagt sich mit Alltagsproblemen und erscheint als ein Mensch, über den es einiges zu lachen gibt ohne dass er ausgelacht würde.
Zu Beginn ringen die Kleists um Inspiration, sitzen grübelnd an ihren zierlichen Schreibtischen, spielen mit Federkielen und lassen müde und erschöpft ihre Köpfe auf die Tischplatten fallen.
Andreas Kriegenburg hat auch das Bühnenbild gestaltet. Es ist eine riesige Holzkiste, ein Raum ohne Türen und Fenster. Heinrich von Kleist wurde 1807 als angeblicher Spion verhaftet und begann während seiner sechsmonatigen Gefangenschaft in Frankreich mit der Arbeit am „Käthchen von Heilbronn“. Die von Kriegenburg geschaffene Behausung erscheint jedoch weniger als Gefängnis und mehr als Studierstube, in die der Dichter sich selbst eingeschlossen hat. Die hohen Wände sind mit handbeschriebenen Papierbogen bedeckt, und die Kleists verschaffen sich mittels fahrbarer Leiter oder durch ein Seil, an dem sie hinaufgezogen werden, Zugriff zu ihren Notizen.
Später, wenn Schloss Thurneck brennt, erzeugt Matthias Vogel raffinierte Lichteffekte durch die rot angeleuchteten weißen Blätter, die von den SchauspielerInnen durch Fächeln mit den Schreibfedern zum Flattern gebracht werden.
Die sechs Kleists sind Elias Arens, Barbara Heynen, Judith Hofmann, Alexander Khuon, Markwart Müller-Elmau und Jörg Pose, ein großartiges Team, das mit Kleists kunstvoll verschraubter Sprache zu jonglieren versteht, sich durch präzises Zusammenspiel auszeichnet und die ständigen Rollenwechsel und verfremdenden Regieeinfälle ganz spontan zu improvisieren scheint.
Heinrich Alexander Khuon legt sich ein Kinderhemdchen übers Gesicht und saugt daraus die erste große Eingebung: Die jugendliche Heldin des neuen Werks steht Kleist vor Augen und auch ihren Namen weiß er. Gretchen heißt sie, worüber alle Kleists beglückt sind, bis einer von ihnen ein Buch entdeckt und demonstrativ hochhält. Gretchen ist bereits vergeben, aber mit Käthchen findet sich schnell ein gleichwertiger Name, der sich nicht nur auf Gretchen reimt, sondern auch auf alle schwärmerischen Gefühle, die er in den Heinrichen auslöst, die nun fieberhaft zu schaffen beginnen.
Kostümbildnerin Andrea Schraad hat die DarstellerInnen historisch korrekt ausgestattet mit schwarzem Frack mit hellbrauner Weste und Halsbinde und schwarzen Kniehosen. Nur die Strümpfe fehlen. Nackte Füße stecken in schwarzen Schuhen.
Heinrich von Kleist war zwar nie wirklich arm, aber, weil er nicht haushalten konnte, ständig in Geldnöten. Der running Gag des Stücks, der Satz „Ulrike, schick Geld“, taucht, als Bitte oder Forderung, in fast allen Briefen Kleists an seine Schwester auf, die, wie er ihr mitteilte, aufgrund ihres Geschlechts in die zweite Reihe der menschlichen Lebewesen gehörte und es sich zur Ehre anrechnen sollte, dass ihr Bruder sich von ihr unterstützen ließ.
Kurz vor Heinrichs Tod war es zum Bruch zwischen den Geschwistern gekommen. In seinem Brief an Ulrike „Am Morgen meines Todes“ bittet Heinrich die Schwester um Verzeihung und schafft damit die versöhnliche Stimmung, die Ulrike dazu bewegen sollte, ohne Murren die Bezahlung für die Beerdigung des Bruders zu übernehmen. Heinrich hinterließ lediglich Schulden. In den Anweisungen an den Kriegsrat Peguilhen teilte Kleist vorausschauend mit, dass seine Schwester Ulrike die Begräbniskosten erstatten werde.
Aus Heinrichs Abschiedsbrief an Ulrike zitiert Heinrich Markwart Müller-Elmau die berühmte Aussage „Die Wahrheit ist, dass mir auf Erden nicht zu helfen war“, unterbricht sich jedoch erschrocken, denn dieser Satz ist Heinrich ja bei der Arbeit am Käthchen noch gar nicht eingefallen.
Die Sehnsucht nach Dichterruhm war bei Heinrich von Kleist nicht weniger stark als die Todessehnsucht. Mit dem „Käthchen von Heilbronn“ erhoffte er sich den ganz großen Erfolg, und er hat das Schauspiel mit allem ausgestattet, was zu seiner Zeit in Mode war: Mittelalter und Ritterromantik, das liebliche Schwabenland mit seinen Wäldern, Höhlen und Grotten, stolzen Burgen und Schlössern, ein Femegericht, rechtschaffene Handwerker und Kaiserherrlichkeit.
Die sechs Kleists schwelgen in Gefühlsseligkeiten, aber auch wenn Heinrich Jörg Pose hinreißend naiv darüber staunt, dass er von dem, was er selbst geschaffen hat, so bewegt sein kann, diktiert er andererseits schulmeisterlich die korrekte Interpunktion bei der Niederschrift.
Die Heinriche erschaffen ihr Stück aus dem eigenen Erleben, begeben sich in die imaginierten Situationen hinein und verwandeln sich in die handelnden Personen. Jede und jeder darf in Käthchens Kleidchen hineinschlüpfen oder den Grafen Friedrich Wetter vom Strahl verkörpern. Die Phantasiefiguren werden unterschiedlich gestaltet und auf ihre Möglichkeiten hin geprüft. Die Ritter erscheinen als vorgehaltene Kunststofffiguren, die derb komisch aufeinander losschlagen und sich gegenseitig die Visiere öffnen.
Auch versechsfacht kann Heinrich von Kleist nicht alles darstellen und mit Leben erfüllen, was er zu Papier bringt. Er vervielfacht sich weiter durch Masken und vor allem mit Hilfe von Puppen, Handpuppen, Marionetten, auch ein zierliches Papiertheater taucht aus einem Koffer auf.
Kunigunde von Thurneck, das böse Monster, erscheint mit rundem Glatzkopf aus Pappmaché und spuckt ihre künstlichen Zähne auf die Bühne, während Heinrich Judith Hofmann ihr zu Bewegung und Stimme verhilft. Wenn Heinrich Käthchen Barbara Heynen vor der rot flackernden Zettelwand am Seil herunterschwebt, ist sie begleitet vom Cherub in Gestalt einer kleinen goldenen Engelfigur.
Als eindrucksvolles Bild von Vergänglichkeit und neuem Leben formieren sich Barbara Heynen und Elias Arens, halbnackt, ineinander verschlungen daliegend, während Judith Hofmann und Jörg Pose die Körper des Paares grün bestreuen. Was zunächst so aussieht wie das Würzen eines kannibalischen Mahls wird erkennbar als Gras, das auf der weißen Haut wächst, darauf stehen kleine Bäume, Häuser und Menschen.
Das glückliche Ende des Stücks ist in dieser Inszenierung nicht zu sehen. Zwar setzt Heinrich Markwart Müller-Elmau sich begeistert eine Papierkrone auf, aber sein Kaiser ist sehr hinfällig. Er bekommt Kopfhörer aufgesetzt und sein Bekenntnis, dass er der Vater des Käthchen von Heilbronn ist, wird ihm durch Schläuche in die Ohren geblasen. Nach seiner Erklärung stürzt der Kaiser tot zu Boden, und die übrigen fünf Heinriche schreiben ihre Verzweiflung und Todessehnsucht auf den Körper des Kaisers. Zu Lebzeiten hatte Heinrich von Kleist kein Glück mit seinem „Käthchen von Heilbronn“.
Bei der Premiere machten sich vor der Pause einige Buh-Rufer bemerkbar, die dann anscheinend das Theater verließen. Am Schluss gab es begeisterten Applaus, Standing Ovations und Bravorufe für Andreas Kriegenburg und sein großartiges Team.
„Das Käthchen von Heilbronn“ von Heinrich von Kleist hatte am 08.12.2011 Premiere im Deutschen Theater. Nächste Vorstellungen: 19.01., 20.02. und 26.02.2012 jeweils 20.00 Uhr.