Berlin, Köln, Deutschland (Weltexpress). Die rund 20 000 Fans auf den Rängen, fast ausnahmslos ausgerüstet mit Klatschpappen, Fähnchen, Hütchen oder Schals, lärmten und gaben ihr Bestes. Doch von einem Heimvorteil zugunsten des WM-Gastgebers war zunächst wenig zu erkennen. Zumal die dänischen Schiedsrichter unbeeindruckt der Kulisse kurz nacheinander drei Zeitstrafen gegen die deutsche Mannschaft verhängten.
Der Heimvorteil und die Fünf-Tore-Faustregel
So, als wollten sie beim Hauptrundenspiel Deutschland gegen Kroatien am Montag in Köln nachdrücklich deutlich machen, dass auch bei dieser Weltmeisterschaft nach den Regeln des Handball-Weltverbandes gespielt werde. Und nicht nach Wunsch und Wille der Fans auf den Rängen.
So stand es zur Halbzeit 11:11, über das sich niemand beklagen durfte. Ganz anders nach 60 Spielminuten und dem 22:21-Endstand zugunsten der Hausherren.
Damit war der Mannschaft von Bundestrainer Christian Prokop der vorzeitige Einzug ins WM-Halbfinale geglückt, während für die Kroaten der Traum von einer WM-Medaille damit ausgeträumt war.
Verantwortlich dafür machten sie vor allem das Schiedsrichtergespann. Die Herren Gjerdling und Hansen hatten in der sogenannten Crunch Time, also der Phase, in der Spiele entschieden werden, ganz am Ende mit ihren Pfiffen die Deutschen bevorteilt. Beispielsweise in einer Situation, in der der Steffen Fäth den Ball verloren hatte, aber die Deutschen dennoch im Ballbesitz blieben.
Die Proteste der Kroaten halfen nichts. Auch nicht, als ihr wichtigster Mann, der Rückraumspieler Domagoj Duvnjak, am deutschen Abwehrriegel vorbei marschierte und auf dem Boden landete. Und kein Pfiff ertönte.
Besonders heftig protestierten die Kroaten dann beim Stand von 21:20 für Schwarz-rot-gold. Da war Linksaußen Martin Strlek in Richtung Wurfkreis gestartet, als der Deutsche Jannik Kohlbacher von der Seite kam und einen Zusammenprall provozierte.
Eher eine Konstellation für einen 7-m-Strafwurf plus 2-Minuten-Herausstellung als für ein Stürmerfoul. Zum Entsetzen der kroatischen Bank entschieden die Unparteiischen auf Regelverstoß des Angreifers. Eine Fifty-Fifty-Entscheidung meinte der deutsche Kreisläufer Hendrik Pekeler. Kapitän Uwe Gensheimer markierte im Gegenzug gegen den schockierten Gegner die vorentscheidende 22:20-Führung. Das reichte zum 22:21 des Gastgebers über den zweimaligen Olympiasieger Kroatien.
Dessen Trainer Lino Cervar (68) verlor die Fassung und sprach von einer der bittersten Niederlagen seiner Trainerkarriere. Und er fühle sich von den Schiedsrichtern betrogen, die einen schlechten Job gemacht hätten.
Wieder einmal zeigte sich, dass der Heimvorteil im Handball eine größere Rolle als in anderen Sportarten spielt. Weil der Spielraum in den Regelauslegungen – siehe den oben geschilderten Zusammenprall – für manche Situationen einfach zu groß ist. Dazu zählt auch die subjektive Bewertung des Zeitspiels. Wenn die Schiedsrichter, beispielsweise durch lautes Monieren der Zuschauer unter Druck gesetzt, ein Zeitspiel empfinden, heben sie den Arm. Dann sind noch fünf Pässe bis zum Torwurf erlaubt. Ansonsten erfolgt der Pfiff und der Ballbesitz wechselt.
Vorschläge, diese Entscheidung transparenter zu machen (wie beim Basketball mit der 24-Sekunden-Angriffsregel), haben bisher beim Regelboard der Handballer keine Mehrheit gefunden.
Und so gilt denn bei Handball-Großereignissen bis hin in die Bundesliga die Faustformel, dass der Heimvorteil etwa fünf Tore zugunsten des Gastgebers ausmachen könne. Wer die Hausherren mit einem Tor schlagen wolle, müsse etwa real fünf Treffer besser sein.
Wobei die Basisdaten in der Partie gegen Kroatien auf den ersten Blick diese These nicht bestätigen. Fünf Zeitstrafen und zwei Verwarnungen gab es gegen die robust agierende Defensive der Deutschen, denen zwei Siebenmeter zuerkannt wurden. Vier Herausstellungen hatten die Kroaten hinzunehmen, die allerdings in der umkämpften Begegnung nur einen 7 m bekamen.
Die aufgeführten strittigen Entscheidungen gegen das Aufgebot vom Balkan fielen allesamt in der Schlussphase.
Dass die Gastgeber dieser WM von Anbeginn die Unterstützung von den Rängen und allgemein den Heimvorteil als Erfolgsfaktoren mit ins Kalkül einbezogen, ist keine deutsche Erfindung.
Sondern ein Erfahrungswert – sämtliche WM-Ausrichter der zurückliegenden Jahre schlossen durchweg erfolgreich ab. Egal, ob es Kroatien selbst war, oder Slowenien, Frankreich oder sogar Katar. Die Deutschen erreichten zuletzt vor 12 Jahren ein WM-Halbfinale. Das war bei der Heim-WM 2007!
Gastgeber-Bonus auch beim Spielplan
Ein offizieller Bonus wird dem Veranstalter mit dem Festlegen des Spielplans gestattet. So hatten die Deutschen in der Vorrunde vor dem Spiel gegen Brasilien einen Tag spielfrei, während die Südamerikaner 24 Stunden zuvor ihre Kräfte bei der knappen Niederlage gegen den Rekord-Weltmeister Frankreich strapazierten. In der Hauptrunde pausierten die Deutschen am Tag vor dem Duell mit Kroatien, dem vermeintlich härtesten Brocken im Kampf um den Einzug ins Halbfinale. Dessen Akteure dagegen erlebten mit der unerwarteten Niederlage gegen Brasilien einen mentalen und sportlichen Tiefschlag.
Im Bemühen, um die Begeisterung für die WM und die größtmögliche Unterstützung für die Mannschaft zu entfachen und zu forcieren, ist die Tendenz zur emotionalen Überhitzung erlennbar. So forderte Bob Hanning, der Mann in den wildbunten Malediven-Sweatshirts und ansonsten Verbands-Vizepräsident, das Publikum in der Berliner MB-Arena höchst selbst am Mikrofon zur stärkeren akustischen Anfeuerung auf. Man stelle sich vor, allen anderen Teams würde Gleiches eingeräumt. In Köln, gegen Kroatien, gab der Hallensprecher den mittlerweile häufig bei Sport-Events erlebten Schreihals mit Einpeitscher-Intentionen: Lauter, lauter, lauter!
Da die Halbfinals in Hamburg den Deutschen den immens wichtigen Heimvorteil verheißen, wünscht sich die deutsche Delegation dort den wohl aussichtsreichsten Anwärter auf den WM-Titel, Dänemark, als Gegner. Die spielstarke und auf allen Positionen kompakter besetzte Formation des Olympiasiegers dann in den Finals im dänischen Herning zu bezwingen, dazu müssten die Deutschen wohl schon fünf Tore besser sein…