Der israelisch-palästinensische Konflikt wird zu einem jüdisch –muslimischen Konflikt. Der nationale Krieg wird zu einem religiösen Krieg.
Nationale Konflikte sind grundsätzlich rational. Sie betreffen Land. Sie können gewöhnlich durch Kompromisse gelöst werden.
Religiöse Konflikte sind irrational. Jede Seite glaubt an die absolute Wahrheit und betrachtet automatisch alle anderen als Ungläubige, als Feinde des einzig wahren Gottes.
Es kann keinen Kompromiss zwischen wahren Gläubigen geben, die glauben, dass sie für Gott kämpfen und ihre Befehle direkt vom Himmel erhalten: „Gott will es!“ schrien die Kreuzfahrer und schlachteten Muslime und Juden ab. „Allah ist der Größte!“ schreien fanatische Muslime und köpfen ihre Feinde. „Wer ist wie DU unter den Göttern?“ schrien die Makkabäer und vernichteten alle Mitjuden, die griechische Sitten angenommen hatten.
Die zionistische Bewegung wurde nach dem Sieg der europäischen Aufklärung von säkularisierten Juden geschaffen. Fast alle Gründer waren überzeugte Atheisten. Wir waren meistens bereit, religiöse Symbole zur Dekoration zu benützen, wurden aber klar von allen großen religiösen Weisen ihrer Zeit angeprangert.
Vor der Schaffung Israels war das zionistische Unternehmen in der Tat frei von religiösen Dogmen. Sogar heute reden extreme Zionisten noch über den „Nationalstaat des jüdischen Volkes“, nicht vom „religiösen Staat des jüdischen Glaubens“. Sogar für das „national-religiöse“ Lager, die Vorläufer der heutigen Siedler und Halb-Faschisten, war Religion dem nationalen Ziel untergeordnet – die Schaffung eines nationalen jüdischen Staates im ganzen Land zwischen Mittelmeer und dem Jordanfluss.
Diese nationale Offensive traf natürlich auf den resoluten Widerstand der arabischen Nationalbewegung. Nach einigem anfänglichen Zögern wandten sich die arabischen Führer dagegen. Dieser Widerstand hatte sehr wenig mit Religion zu tun. Es stimmt, dass einige Zeit der palästinensische Widerstand vom Groß-Mufti von Jerusalem. Hadj Amin al-Husseini, geführt wurde, aber nicht wegen seiner religiösen Position, sondern weil er der Führer von Jerusalems aristokratischster Familie war.
Die arabische Nationalbewegung war immer entschieden säkular. Einige ihrer hervorragendsten Führer waren Christen. Die pan-arabische Ba’ath (Auferstehung)-Partei, die in Syrien wie im Irak dominierte, war von Christen gegründet worden.
Der große Held der arabischen Massen in jener Zeit war Gamal Abd-al-Nassar, obwohl formal gesehen Muslim, war er ganz areligiös. Yasser Arafat, der Führer der PLO, war privat ein frommer Muslim, aber unter seiner Führung blieb die PLO eine säkulare Körperschaft mit vielen christlichen Bestandteilen. Er sprach über die Befreiung von Ost-Jerusalems „Moscheen und Kirchen“. Eine Zeitlang war das offizielle Ziel der PLO in Palästina, einen „demokratischen und nicht-konfessionellen“ Staat zu gründen.
Was ist geschehen? Wie verwandelte sich eine nationalistische Bewegung in eine gewalttätige, fanatisch- religiöse?
Karen Armstrong, eine Nonne, die Historikerin wurde, machte darauf aufmerksam, dass dasselbe praktisch gleichzeitig in allen drei Religionen geschah. In den US spielen evangelikale Christen jetzt eine große Rolle in der Politik, in enger Zusammenarbeit mit dem jüdischen Establishment vom rechten Flügel. In der ganzen muslimischen Welt gewinnen die fundamentalistischen Bewegungen an Stärke. Und in Israel spielt ein jüdischer Fundamentalismus eine immer größere Rolle.
Wenn dieselbe Sache in so verschiedenen Ländern und Religionen geschieht, muss es doch eine gemeinsame Ursache geben. Was ist das?
Es ist einfach, über etwas Nebulöses zu reden, das auf Deutsch der „Zeitgeist“ genannt wird, den Geist der Zeit, aber das erklärt sehr wenig.
In der muslimischen Welt hat der Bankrott des liberalen, säkularen Nationalismus` eine spirituelle Leere geschaffen, einen wirtschaftlichen Zusammenbruch und nationale Demütigung. Das glänzende Versprechen des Nasserismus` endete in der erbärmlichen Stagnation unter Hosny Mubarak. Die Baath-Diktatoren in Bagdad und Damaskus versäumten, einen modernen Staat zu gründen. Die Militärs in Algerien und in der Türkei haben es nicht viel besser gemacht. Nach dem Sturz des gewählten demokratischen Führers Mohammed Mossadeq durch die westlichen Mächte, die hinter dem Öl her sind, konnte der glücklose Shah nicht die Leere füllen.
Und die ganze Zeit über war der demütigende Anblick Israels vorhanden, das von einer verachteten, kleinen, ausländischen Implantation zu einer großen Militär- und Wirtschaftsmacht wurde und den Arabern immer leicht wieder Prügel verpasst.
Nach jeder neuen Niederlage fragen sich die Muslime selbst: Was ist falsch? Wenn der Nationalismus bei beidem versagt, im Frieden und im Krieg, wenn es beiden, dem Kapitalismus und dem Sozialismus, nicht gelingt, eine gesunde Wirtschaft zu schaffen; wenn es weder europäischem Humanismus noch sowjetischem Kommunismus gelungen war, die spirituelle Lücke zu füllen, wo ist dann die Lösung?
Die donnernde Antwort kommt aus der Tiefe der Massen: „Der Islam ist die Antwort!“
Der Logik nach müsste es heißen: die israelische Antwort müsste das genaue Gegenteil sein.
Israel ist eine Erfolgsgeschichte. Es hat nicht nur eine mächtige Militärmaschinerie und glaubwürdige nukleare Fähigkeiten, sondern ist eine technologische Macht und hat eine vergleichsweise gesunde wirtschaftliche Basis.
Aber messianischer Fundamentalismus, eng verbunden mit einem extremen Nationalismus, diktiert jetzt unsern Kurs.
Am Vorabend des letzten Krieges veröffentlichte der Kommandeur der Givati-Brigade eine Tagesorder für seine Offiziere. Diese schockierte viele.
Die Givati-Brigade war im 1948er-Krieg eine hervorragende Kampftruppe (Ich war einer ihrer ursprünglichen Kämpfer und schrieb zwei Bücher darüber). Wir waren sehr stolz auf ihre Zusammensetzung. Die Kämpfer waren eine Mischung von Söhnen der Tel-Aviv-Elite und der ärmsten umgebenden Slums – eine Mischung, die besonders erfolgreich war und dies in der Schlacht bewies.
Der Brigadekommandeur war ein früherer deutscher kommunistischer Untergrund –kämpfer unter den Nazis, der zum Zionismus konvertierte und Mitglied eines Kibbuzes des linken Flügels wurde. Das waren die meisten seiner Stabsoffiziere. Ich kann mich nicht an ein einziges Mitglied der Brigade erinnern, das eine Kippa trug.
Man stelle sich unsern Schock vor, als der jetzige Brigadekommandeur zu einem heiligen Kampf aufrief, um Gottes Willen zu erfüllen. Oberst Ofer Winter, der in seiner Jugend eine religiös-militärische Schule besucht hatte, musste seinen Soldaten am Abend vor der Schlacht folgendes sagen:
„Die Geschichte hat uns zur Speerspitze im Kampf gegen den Gaza-Terroristenfeind ausgewählt, der den Gott von Israels Schlachten verschmäht und verflucht ”¦Ich hebe meine Augen auf zum Himmel und rufe mit euch: Höre, Israel, der Herr unser Gott, der Herr ist Einer! O Herr, der Gott Israels, lass uns auf unserm Weg Erfolg haben, da wir zum Kampf für Israel gegen einen Feind gehen, der deinen Namen verschmäht!“
Das offizielle Ziel der israelischen Armee bei dieser Kampagne war, die Grenze zu schützen und die auf israelische Städte und Dörfer geworfenen Raketen zu stoppen. Aber das ist nicht das Ziel des Obersten. Er sandte seine Soldaten in die tödliche Schlacht (drei von ihnen starben) für den Gott Israels, gegen diejenigen, die seinen Namen verfluchen.
Wenn dieser Offizier der einzige religiöse Fanatiker in der Armee gewesen wäre, wäre das schon schlimm genug. Aber die Armee ist jetzt voll von Kippa tragenden Offizieren, die mit religiösem Eifer indoktriniert worden sind und nun ihre Soldaten im selben Geist indoktrinieren.
Die zionistisch-religiöse Partei und ihre fanatischen Rabbiner – viele von ihnen ausgesprochene Faschisten – sind seit Jahren bemüht, ihre Leute systematisch in das Armee-Offizierskorps zu infiltrieren. Es ist ein Prozess der natürlichen Auswahl: Offiziere, die nicht gern in den besetzten Gebieten als Kolonialherren agieren, verlassen die Armee und werden hochtechnisierte Unternehmer, während messianische Fanatiker dorthin gesandt werden, um ihren Platz auszufüllen .
Der Oberst ist übrigens nicht getadelt oder in irgendeiner Weise zurecht gewiesen worden. Im Gegenteil. Er ist während des Krieges als Vorbild eines Kampf-kommandeurs gelobt worden.
All dies führt mich zu ISIS – dem islamischen Staat Irak und al-Sham (Groß-Syrien), der seinen Namen in „Islamischer Staat“ verändert hat. Die Veränderung bedeutet, dass die früheren Staaten, die von den westlichen Kolonisatoren nach dem 1. Weltkrieg geschaffen wurde, aufgehoben werden. Es wird einen islamischen Staat geben, der alle früheren und gegenwärtigen islamischen Gebiete einschließt, einschließlich Palästinas (und Israels).
Dies ist ein neues und erschreckendes Phänomen. Es gibt natürlich eine Menge islamistischer Parteien und Organisationen in der muslimischen Welt – von der türkischen Regierungspartei zur ägyptischen Muslim-Bruderschaft bis zur palästinensischen Hamas. Aber fast alle beschränken ihren Kampf auf ihre nationalen Länder Türkei, Syrien, Palästina, Jemen. Sie wollen die Macht übernehmen und ihre Länder beherrschen. Sogar Osama bin Laden wollte vor allem sein Saudi-Heimatland übernehmen.
ISIS ist etwas ganz anderes. Es will alle Staaten zerstören, besonders die muslimischen Staaten, die von den westlichen Imperialisten auf dem islamischen Land aufgestellt wurden. Mit schrecklicher Grausamkeit, das zum religiösen Symbol erhoben wird, hat sie sich auf den Weg gemacht, die muslimische Welt und dann den Globus zu erobern.
Es mag lächerlich sein, wo doch das ganze Unternehmen nur aus ein paar Tausend Kämpfern besteht. Aber diese winzige Militärkraft hat schon einen riesigen Teil von Syrien und dem Irak erobert. Dies drückt das muslimische Verlangen der Wiederherstellung des alten Ruhmes, seines Hasses gegenüber all jenen (einschließlich uns), die den Islam gedemütigt haben, also einen Durst nach geistigen Werten aus. Ich kann mir nicht helfen: es erinnert mich an den Beginn der Nazibewegung – ihre Wut, ihren Durst nach Rache, ihre Anziehungskraft auf all die Armen und Gedemütigten.
Es mag nur wenige Jahre dauern, um eine große Macht zu werden und all die Länder der Region zu bedrohen.
Bedorht es Israel? Natürlich tut es das. Wenn seine Dynamik anhält, wird es das Assad-Regime überwältigen und die israelische Grenze erreichen, wo andere islamische Rebellen in dieser Woche schon die ersten paar Runden geschossen haben..
Mit solch einer Gefahr, die vom Norden droht, scheint es lächerlich gegen eine winzig kleine islamische patriotische Bewegung in Gaza zu kämpfen – selbst wenn sie den Namen des Herrn verflucht.
Es mag sehr wenig Zeit übrigbleiben, um Frieden mit der arabischen Nationalbewegung zu schließen, besonders mit dem palästinensischen Volk – einschließlich der PLO und der Hamas – und sich dem Kampf gegen den islamischen Staat anschließen.
Die Alternative ist furchterregend.
Anmerkungen:
Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde ins Deutsche von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Nach Eigenangaben erfolgte am 06.09.2014 MEZ unter www.uri-avnery.de die Erstveröffentlichung. Alle Rechte beim Autor.