Glück im Unglück hatten am Nachmittag die Berliner Symphoniker mit ihrem Konzert beim Choriner Musiksommer. Sie saßen unter dem Dach des Ostchores. Das Wetter war denkbar schlecht: Dauerregen und ganze 12 Grad Celsius. Der Wind trug Regenschwaden in die nach Süden offene Klosterruine. Dennoch war das Kirchenschiff voll besetzt. Die chorinerfahrenen Besucher kamen in Wetterkleidung, mit Wärmematten und Decken. Diejenigen, die sonst auf dem Rasen im Innenhof lagern, hatten sich in den Kreuzgang geflüchtet. Keiner ging weg. Problematisch war es für die Musiker, denn feuchte Luft und kalte Hände sind Gift für die Instrumente und das Spiel. Es lag an der Grenze des Möglichen, aber das Orchester musizierte, und beim Violinkonzert von Johannes Brahms, interpretiert von Guy Braunstein, war es still wie in einer Andacht.
Guy Braunstein ist einer der begehrtesten Violinvirtuosen weltweit, der mindestens 150 Konzerte im Jahr spielt, davon mehr als die Hälfte als Solist und Kammermusiker. Nach dem Konzert sprach Sigurd Schulze mit ihm.
Herr Braunstein, Sie treten zum ersten Mal in Chorin auf. Welchen Eindruck haben Sie? Wie war das Publikum, wie das Konzert?
Guy Braunstein: Sehr gut. Unglaublich, wie viele Leute hierher gekommen sind. Das Spielen war schwierig. Es war kalt und vor allem feucht. Mein Geigenbogen verlor von der Feuchtigkeit Spannung. Da muß man schon sehr »arbeiten.« Aber ich glaube, das Konzert war gut, das Orchester war gut. Das Publikum war sehr ruhig und am Ende laut.
Großer Beifall und Bravorufe. Sie haben schon öfter mit den Berliner Symphonikern zusammengearbeitet. Wie empfinden Sie die Zusammenarbeit? Wie gefällt Ihnen das Orchester?
Guy Braunstein: Ich bin sehr zufrieden. Ich freue mich immer sehr, weil Ich dort gute Freunde und gute Musiker treffe. Und ich habe immer viel Spaß daran, mit Lior Shambadal zu musizieren.
Die Berliner Symphoniker haben es schwer, weil ihnen der Senat die Zuschüsse gestrichen hat. Welche Zukunft sehen Sie für das Orchester? Entwickelt es sich?
Guy Braunstein: Wenn die Politik nicht stört, sehe ich für das Orchester eine gute Zukunft, denn die musikalische Richtung ist da, die Qualität ist da. Das Orchester ist ungeheuer wichtig für das Musikleben in Berlin. Jedes Orchester hat ein eigenes musikalisches Gesicht, und die Symphoniker haben ein schönes Gesicht zu zeigen. Dieses Orchester bringt etwas in das Musikleben ein, was andere Orchester nicht bringen. Es hat seine eigene wichtige Rolle zu spielen. Sie haben ein anderes Profil. Normalerweise muss man zu den Orchestern und in die Opernhäuser gehen. Man muss immer dahin kommen, um sie zu hören. Die Berliner Symphoniker gehen zum Volk, nicht umgekehrt. Sie spielen zum Beispiel in Chorin und in der Berliner Kulturbrauerei. Sie gehören zur Volkskultur.
Wie ist Ihr Verhältnis zum Chefdirigenten Lior Shambadal?
Guy Braunstein: Lior Shambadal ist ein Maestro, mit dem ich wahnsinnig gern zusammenarbeite, immer mehr und mehr. Ich finde, ich muss mit ihm weniger sprechen als mit anderen Dirigenten, wir verstehen uns in der Musik. Wir haben den gleichen Weg, die gleiche Kunst, die gleiche Art. Und viele Sachen kommen von allein. Das findet man kaum zwischen Dirigenten und Solisten. Man atmet zusammen und denkt zusammen, und es macht uns großen Spaß.
Sie arbeiten auch mit dem West Eastern Divan Orchestra.
Guy Braunstein: Wenn es mein Terminkalender erlaubt, versuche ich, so oft wie möglich mit ihnen zu musizieren. Das ganze Projekt liegt mir sehr am Herzen. Daniel Barenboim und ich und viele Freunde wollen damit ein friedliches Zusammenleben der Völker im Nahen Osten fördern. Im Orchester spielen auch viele junge Musiker aus Israel, Palästina, Jordanien, Syrien, Iran, aus dem Libanon und aus der ganzen Region.
Wir haben vor zwei Jahren in der Waldbühne gesehen, dass Sie im Orchester mitgespielt und einem sehr jungen Geiger – wahrscheinlich – Ratschläge gegeben haben.
Guy Braunstein: Ja, ich habe mitgespielt, am letzten Pult. Neben mir saß ein sehr begabter Junge aus Palästina , damals 11 Jahre alt, der jetzt in Nazareth studiert. Wir haben miteinander gescherzt, und er hat zu mir gesagt: Du musst mehr üben!
In der Spielzeit 2011/2012 sind Sie der »Artist in Residence« der Hamburger Symphoniker. Machen Sie in Berlin Pause?
Guy Braunstein: Nein. Ich mache beides. Die Berliner Philharmoniker sind meine Familie. Aber ich habe große Lust, auch solistisch zu spielen. In Hamburg mache ich acht Programme. An einem Abend werde ich das Violinkonzert von Beethoven dirigieren und spielen.