Gestalten der deutschen Revolution von 1848/49: Michael Bakunin, vom Zaren-Offizier zum Revolutionär

Michail Bakunin. Foto: Nadar, gemeinfrei

Berlin, Deutschland (Weltexpress). Dass an den revolutionären Erhebungen 1848/49 in Europa der frühere Offizier des Zaren Michail Alexandrowitsch Bakunin teilnahm, ist wenig bekannt. Dabei ist der am 30. Mai 1814 in Prjamuchino im Gouvernement Twer in Rußland geborene, aus einer alten russischen Adelsfamilie stammende, spätere führende Anarchist Bakunin eine schildernde Persönlichkeit dieser Jahre. Herausragend sind seine Teilnahme 1848 an den Erhebungen in Paris und Prag sowie im Mai 1849 am Aufstand in Dresden, dessen militärischer Leiter er war. Durch Verrat in Gefangenschaft geraten wurde er zuerst in Sachsen, danach in Österreich zum Tode verurteilt, beide Male begnadigt, um ihn nach Russland ausliefern zu können. Er verbrachte acht Jahre in zaristischen Gefängnissen und weitere vier Jahre in sibirischer Verbannung, bis ihm 1861 die Flucht gelang. 1

Mit 14 Jahren trat er als Kadett in die Artillerieschule St. Petersburg ein und schlug die Offizierslaufbahn ein. Die brutale Niederschlagung des polnischen Aufstandes 1832 gegen die Zarenherrschaft in Polen, die er als Leutnant erlebte, schockierte den jungen Bakunin und weckte seinen Abscheu gegen das zaristische Regime. 2 Drei Jahre später verließ er das Militär, einflussreiche Verwandte sorgten dafür, dass er nicht wegen Desertion vor ein Kriegsgericht gestellt wurde.

1836 ging er nach Moskau und schlug sich als Mathematiklehrer durch. Später studierte er an der Moskauer Universität Philosophie, wobei er sich besonders  mit Kant, Fichte und Schelling befasste und in Russland als größter Hegel-Kenner seiner Zeit galt. In Moskau schloss Bakunin 1839 Freundschaft mit dem revolutionären Demokraten Alexander Herzen. 3Ab 1840 setzte er seine Studien in Berlin fort und schloss unter anderen  Bekanntschaft mit Karl August Varnhagen von Ense und befreundete sich mit  Iwan Turgenew. Seine politischen Ansichten wurden stark durch seine Kontakte mit den Junghegelianern, darunter Arnold Ruge, Herausgeber der Zeitschrift „Deutsche Jahrbücherfür Wissenschaft und Kunst“, des Organs der Junghegelianer, beeinflusst. Die Bekanntschaft mit Ruge bewirkte, dass er begann, sich für den Sozialismus zu interessieren, darunter für die Ideen französischer  kleinbürgerlicher Frühsozialisten wie Louis Blanc und Pierre Joseph  Proudhon. 4 1843 begab er sich mit  Georg Herwegh, einem weiteren seiner Bekannten, nach Zürich, wo er auch Wilhelm Weitling kennenlernte. In Zürich nahm die Polizei Bakunin fest und der russische Konsul forderte seine sofortige Rückkehr nach Moskau. Als Bakunin sich weigerte und nach Brüssel  floh, wurde ihm vom Zaren sein Adelstitel aberkannt, und er in Abwesenheit zu Zwangsarbeit in Sibirien  verurteilt.

1844 ließ er sich in Paris, dem damaligen revolutionären Zentrum Europas nieder, wo in der einzigen Ausgabe der Deutsch-Französischen Jahrbücher ein alter Brief von ihm an Ruge publiziert wurde, in dem er große Erwartungen in das revolutionäre Potenzial der Deutschen gesetzt hatte. In Paris schloss er enge Freundschaft mit  Proudhon , die bis zu dessen Tod im Jahre 1865 anhielt. Auf Forderung Russlands wurde er 1847 aus Frankreich ausgewiesen und ging nach Brüssel.

Als 1848 in Frankreich die Februarrevolution ausbrach, die Louis Philippe I. stürzte und die  Zweite Französische Republik ausrief, kehrte Bakunin nach Paris zurück und nahm an den revolutionären Kämpfen teil. Danach begab er sich nach Frankfurt am Main  und unterstützte Arnold Ruge, 5 der Abgeordneter in der Frankfurter Nationalversammlung war. Seine Versuche, die Nationalversammlung zur Unterstützung der polnischen Revolutionäre zu gewinnen, schlugen fehl.

Danach reiste er weiter nach Polen, wo er sich der polnischen Bauernarmee zur Befreiung Polens von Ludwik Mieroslawski  6 anschließen wollte. Als Bakunin in Breslau ankam, war der Aufstand bereits von der preußischen Armee niedergeschlagen worden. Nun schloss er sich der von Herwegh in Frankreich gebildeten  Deutschen Demokratischen Legion an, die den Aufstand Friedrich Heckers   im April 1848  in Baden   unterstützen wollte, der jedoch scheiterte. Der unermüdliche Revolutionär reiste nach Prag, wo er als einziger Russe am Slawenkongress  

teilnahm. Die Ablehnung der Forderung nach Gleichberechtigung der Völker durch die Habsburger Monarchie   führte zum Aufstand der Tschechen gegen die österreichische Fremdherrschaft, an dem Bakunin auch teilnahm. Die Erhebung wurde nach fünf Tagen durch österreichische Truppen  unter dem Befehl des Prager Stadtkommandanten Fürst Windisch- Graetz   niedergeschlagen. Ende 1848 publizierte Bakunin  seinen berühmten „Aufruf an die Slawen“, 7 in dem er hervorhob, dass die nationale Frage untrennbar mit der sozialen Frage verbunden ist. Er kritisierte dabei die Vorgänge in Deutschland und rief zum gemeinsamen Kampf von Deutschen und Slawen gegen die herrschenden Kräfte auf.

1849 beteiligte sich Bakunin an dem am 3. Mai in Dresden ausbrechenden  Aufstand zur Bildung einer sächsischen Republik. Die Leitung der Erhebung übertrug ihm das militärische Kommando. Die Chancen standen günstig. Da der größte Teil der sächsischen Armee in Schleswig Holstein kämpfte, fiel die Stadt fast Kampflos in die Hände der Aufständischen. Der König floh und die Revolutionäre bildeten eine provisorische Regierung. Bakunins Entschluss, Dresden zu besetzen und es zur Verteidigung gegen die heranrückenden Preußen vorzubereiten, wurde jedoch von der Regierung, die auf Verhandlungen setzte, abgelehnt. So gelang es den Preußen nach sieben Tagen erbitterter Kämpfe, die Aufständischen in Richtung Freiberg abzudrängen. Ein Zeitzeuge der Dresdner Erhebung, Richard Wagner, Kapellmeister der Stadt, äußerte zu Bakunin: „Alles war an ihm Kolossal, mit einer auf primitive Frische deutenden Wucht… Es war unmöglich, gegen seine bis über die äußersten Grenzen des Radikalismus nach jeder Seite hin, mit größter Sicherheit ausgedrückten Argumente sich zu behaupten.“ 8

Bakunin fiel am 10. Mai 1849 in die Hände der Preußen. Er wurde zunächst in Sachsen zum Tode verurteilt, die Strafe später in lebenslängliche Haft umgewandelt. Im Juni 1850 wurde er an Wien ausgeliefert, dort 1851 ein weiteres Mal zum Tode verurteilt, am 17. Mai 1851 an Russland ausge-liefert.

Er verbrachte acht Jahre in Gefängnissen und weitere vier Jahre in sibirischer Verbannung . Als ihm 1861 die Flucht gelang, begab er sich nach London, wo er Marx kennen lernte und zu ihm freundschaftliche Beziehungen unterhielt. Als Bakunin sich 1864 entschied, nach Italien zu gehen, bat Marx ihn, dort für die Internationale Arbeiter Assoziation (IAA) aktiv zu werden. In Neapel, wohin Bakunin bald übersiedelte, wurde er zum Begründer des Anarchismus, in Italien als Bakunismus bezeichnet, und zum gefeierten revolutionären Führer. Im April 1867 entstand in Neapel die erste Sektion der IAA. Anfang 1872 existierten in Italien über 100 Organisationen mit zirka 10.000 Mitgliedern. 1874 waren es 129 mit 26.000 Mitgliedern. Das war zu dieser Zeit eine der stärksten Vertretungen in der Internationale, in der die Anhänger Bakunins die Oberhand hatten.

Bis 1870 arbeitete Bakunin seine anarchistische Konzeption aus, die er in den Werken „Staatlichkeit und Anarchie“ und „Gott und der Staat“ zusammenfasste.9 Mit der Losung von der Zerstörung „jeglicher politischer Macht“ wandte er sich gegen die Errichtung der Diktatur des Proletariats. Nachdem Bakunin innerhalb der IAA eine geheime Organisation, die „Allianz der sozialistischen Demokratie“ geschaffen hatte, die sich weigerte, einem Beschlusses des Generalrates zur Auflösung nachzukommen, schloss der Haager Kongress 1872 Bakunin und seine Parteigänger wegen statutenwidriger Fraktionstätigkeit aus der Internationale aus. Trotzdem bewahrte Marx „dem alten Revolutionär seine freundschaftliche Gesinnung und widersetzte sich Angriffen, die aus seiner näheren Umgebung gegen Bakunin gerichtet worden waren oder werden sollten.“10 Dass Bakunin in seinen letzten Lebensjahren mehrfach Gedanken äußerte, die seinen früheren anarchistischen Ansichten über Aufstand und Revolution um jeden Preis zuwider liefen, und er selbst seine ablehnende Haltung zu Marx´ Theorie der Partei und der Spontaneität in Frage stellte, wurde zu dieser Zeit jedoch in Italien nicht bekannt.11 Ungeachtet der negativen Seiten des Wirkens Bakunins hat Franz Mehring ihn nach seinem Tod am 1. Juli 1876 als Revolutionär und Anarchisten gewürdigt, der für die Arbeiterklasse „so tapfer gekämpft und so schwer gelitten hat“ und geschrieben, „bei all seinen Fehlern und Schwächen wird ihm die Geschichte einen Ehrenplatz unter den Vorkämpfern des internationalen Proletariats sichern.“12

Anmerkungen:

1 Madeleine Grawitz: Bakunin, Ein Leben für die Freiheit, Hamburg 1998.

2 Der Aufstand wurde mit preußischer Hilfe niedergeschlagen. Die Erlebnisse bewirkten Bakunins leidenschaftliche Anteilnahme am Kampf der Polen für ihre Befreiung von der Unterdrückung durch das Zarenregime. Ihre Forderungen vertrat er während seiner Teilnahme an den revolutionären Kämpfen 1848/49 in Europa.

3 Materialistischer Philosoph, sympathisierte mit der adligen revolutionären Bewegung der Dekabristen, 1848 Augenzeuge der Revolution in Paris, gehörte in den 60er Jahren zu den Begründern des russischen utopischen Bauernsozialismus, den die Narodniki (Volkstümler) vertraten.

4 Blanc forderte die Bildung vom Staat finanzierter Arbeiterproduktionsgenossenschaften und ein Sozialversicherungssystem. Die provisorische Regierung im Februar 1848 ernannte ihn zum Sekretär. Im Februar 1871 in die Nationalversammlung der Republik gewählt, wandte er sich gegen die Pariser Kommune. Proudhon vertrat das kleinbürgerlich- utopische Ideal einer Gesellschaft von Kleinproduzenten und lehnte das von Marx und Engels verfolgte Ziel einer kommunistischen Gesellschaft ab. Mit der Ablehnung des Staates und des Klassenkampfes vertrat er anarchistische Positionen, wandte sich gegen die Juni-Erhebung der Pariser Arbeiter 1848 und unterstützte Louis Bonaparte (Napoleon III.) Von der Reaktion dennoch mehrfach zu langjährigen Haftstrafen verurteilt. Karl Marx setzte sich in „Das Elend der Philosophie“ mit Proudhons Hauptwerk „Philosophie des Elends“ auseinander und legte Grundlagen seiner materialistischen Lehre von den Gesetzen der gesellschaftlichen Entwicklung und der politischen Ökonomie dar (Werke, Bd. 4 Berlin/DDR 1959, S. 63 bis1 82.

5 Junghegelianer, in Paris 1843 gemeinsam mit

Karl Marx Herausgeber der Deutsch-Französischen Jahrbücher, in der Frankfurter Nationalversammlung Mitglied des linken Flügels.

6 Später zeitweise Oberbefehlshaber der Badisch-Pfälzischen Revolutionsarmee.

7 Selbstverlag des Autors, Köthen 1848.

8 Grawitz, S. 147 ff,

9 Bakunin: Ausgewählte Schriften, Bd. 1, Berlin 1995.

10 Franz Mehring, Gesammelte Schriften, Bd.3, Karl Marx, Geschichte seines Lebens, Berlin/DDR 1960 S. 416.

11 Grawitz, S. 477 ff..

12 Mehring, S. 508.

Siehe auch die Beiträge

im WELTEXPRESS.

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