Genauso zu Ende gehen musste seiner Meinung nach jenes goldene Zeitalter, als das er die letzten Zwanzig Jahre beschreibt: „Der Umfang der weltweiten Wirtschaftsleistungen verdoppelte sich rund alle zehn Jahre, von 31 Billonen Dollar im Jahre 1999 auf 62 Billionen Dollar im Jahr 2008…“ Zunächst müsste man bei solchen Zahlen mal untersuchen, wieviel davon realwirtschaftliches Wachstum ist und wieviel Finanzblase. Auch das Anwachsen von Warenströmen rund um den Planeten ist nicht zwingend positiv zu bewerten, werden doch zahlreiche Waren nur herumzyrkuliert aus Gründen des Maximalprofits, erzeugen dabei unnötigen Transportverkehr, welcher seinerseits in dieser oder jener Weise Treibhausgase freisetzt. Da ließe sich manches vernünftiger durch lokale Kreisläufe bewältigen. Auf jeden Fall hat der Autor nicht bemerkt oder will es nicht bemerken, dass in seinem goldenen neoliberalen Zeitalter die Kluft zwischen arm und reich, sowohl als Kluft zwischen den Ländern als auch innerhalb derer, rasant gewachsen ist. Ein Prophet ist er jedenfalls nicht: Als das englischsprachige Original 2008 erschien, war er noch des Lobes voll für all die neuartigen Finanzinstrumente.
Nun hat er für die deutschsprachige Ausgabe von 2009 noch schnell ein Vorwort hinzugeschrieben, in welchem er sich mit der ausgebrochenen Krise befasst. Teilweise gelingt es ihm den spekulativen Charakter der kapitalistischen Entwicklung der letzten Jahrzehnte zu erkennen, so z.B. wenn er Warren Buffet zitiert: „…die ganze Situation erinnert an Aschenputtel auf dem Ball. Die Jungs sehen immer besser aus, die Musik klingt immer schöner, man hat immer mehr Spaß und denkt sich: `Warum soll ich bloß um Viertel vor zwölf gehen? Ich werde um zwei Minuten vor zwölf gehen.` Das Problem ist jedoch, dass nirgends Uhren an der Wand hängen. Und jeder glaubt, dass er um zwei Minuten vor zwölf gehen wird.“ Auch schwant ihm etwas, dass staatlicher Konsum bei gleichzeitiger Forderung nach niedrigen Steuern und Steuersenkungen irgendwie schief gehen muss: „Auf Staats- wie kommunalpolitischer Ebene begannen Politiker Anleihen für die Zukunft zu machen, weil sie ihren Wählern ein neues Baskettballstadion oder zwölfspurige Autobahnen bescheren wollten, ohne dafür die Steuern zu erhöhen…“ Dennoch gelingt es ihm keineswegs den Gesamtzusammenhang von zweistelligen Renditeerwartungen einerseits, der dazu nötigen niedrigen Arbeitseinkommen und Steuern andererseits und der daraus erwachsenden Notwendigkeit der Konsumtion auf Kredit, privat wie staatlicherseits, um die ebenfalls für die Höhe der Kapitalrendite notwendige zahlungskräftige Nachfrage aufrechtzuerhalten, herauszuarbeiten, in der Weise, wie es Sahra Wagenknecht in ihrem Buch „Wahnsinn mit Methode“ gelungen. Fareed Zakaria ist und bleibt eben ein gläubiger Liberaler, Anbeter der unsichtbaren Hand.
Es macht allerdings trotzdem Sinn das Buch zu lesen, vor allem wegen der ausgiebigen Analyse der amerikanisch-chinesischen Wirtschaftsbeziehungen, sowie überhaupt der jüngeren Entwicklung in China und Indien. Linke Autoren tun sich mit der Volksrepublik China oft ziemlich schwer: Ist hier in erster Linie Solidarität angebracht, weil das Land ja den Sozialismus als langfristiges Ziel noch nicht ganz aufgegeben hat oder eher geharnischte Kritik wegen allzuweitem Vorpreschen in kapitalistischer Richtung und der z.T. auch ungeheuerlichen Lebensbedingungen von Teilen des Proletariats? Als Nichtsozialist kann Fareed Zakaria hier wesentlich unemotionaler herangehen an die Volksrepublik und bringt interessante Fakten.
Die dritte Plenartagung des ZK der KP Chinas im Dezember 1978 hatte überraschend den Auftakt zu den Wirtschaftsreformen Deng Xiaopings gebracht. Da hielt er seine berühmte Rede mit dem Katzengleichnis: Ihm sei es gleich ob die Katze weiß oder schwarz sei, Hauptsache, sie fange Mäuse. Damit wollte er sagen, dass sozialistischer oder doch eher kapitalistischer Weg ihm gleich seien, Hauptsache, China könne seinen Rückstand gegenüber den hochentwickelten Industrieländern aufholen und zu größerem Wohlstand gelangen. Heute spricht die KP Chinas davon, den Tiger Kapitalismus zu reiten. Da sieht man einmal, wie die Raubmietze gewachsen ist. Als Sozialist sollte man jedenfalls auch danach fragen, wo welche Katze die Mäuse hinträgt.
Immerhin, seit Beginn dieser Reformpolitik wuchs die chinesische Volkswirtschaft um 9% jedes Jahr. Seit dieser Zeit sei es der chinesischen Regierung auch gelungen 400 Millionen Menschen der Armut zu entreißen. Bei einer Gesamtbevölkerung von 1,3 Milliarden Einwohnern bedeutet dies allerdings auch, dass noch immer 900 Millionen Chinesen in bitterer Armut leben. Dies führt natürlich zu gefährlichen sozialen Spannungen. In der VR China betont man jedoch die vergleichsweise stabile Entwicklung, verglichen mit Russland zur Zeit Jelzins, der einen äußerst neoliberalen Kapitalismus mittels Schocktherapie quasi über Nacht einführte und damit große Teile der Bevölkerung zum sozialen Absturz brachte. Aber kann Jelzin überhaupt ein Vergleichsmaßstab sein für Kommunisten?
Die VR China besitzt Devisenreserven in Höhe von 1,5 Billionen Dollar. Dies ist einerseits ein großer wirtschaftlicher Erfolg, könnte aber nun in der Krise auch zu einem Problem werden: Die Bankenrettungs- und Konjunkturpakete der US-Regierung könnten zu einer inflationären Entwertung dieser Devisenreserven führen. Würde die chinesische Regierung angesichts dieser Gefahr allerdings versuchen, diese Dollarreserven abzustoßen, würde sie selbst damit die zu fürchtende Dollarabwertung auslösen, es sei denn, sie tut es in homöopathischer Dosierung. 50% ihrer Steuereinnahmen gibt die Volksrepublik für die Rüstung aus. Das ist ziemlich viel, aber dennoch vergleichsweise wenig gegenüber den USA, die bei deutlich höherem Steueraufkommen 70% hiervon für die Rüstung ausgeben.
Trotz der marktwirtschaftlichen Reformen befindet sich nach wie vor ein großer Teil der Wirtschaft in staatlicher Hand. 50% des Bruttoinlandsproduktes werden nach wie vor in staatlichen Betrieben erwirtschaftet. Von den 35 Aktiengesellschaften, deren Aktien an der Shanghaier Börse gehandelt werden, befinden sich 34 mehrheitlich in staatlichem Besitz. Das gilt ebenso für fast alle Banken des Landes. Die Kommandohöhen der Wirtschaft haben die chinesischen Kommunisten also noch lange nicht aus der Hand gegeben, von einem Sieg des Kapitalismus in China nicht die Rede sein. Jene Grundlagen des Sozialismus bzgl. der Eigentumsverhältnisse, die in der Revolution von 1949 geschaffen wurden, bestehen also nach wie vor. Von einer sozialistischen Gesellschaft kann allerdings angesichts der schreienden sozialen Unterschiede keine Rede sein.
Wenn sie Unterdrückungsmaßnahmen für notwendig hält, beruft sich die Führung der KP Chinas gerne auf das Marx-Wort von der Diktatur des Proletariats. Dies ist ein gewisser Hohn, angesichts der heutigen sozialen Zusammensetzung der KP Chinas. Bei ihrer Gründung in den 20er Jahren des letzten Jahrhunderts basierte sie tatsächlich auf dem Proletariat des industriellen Ballungsraumes um Shanghai und wurde während des Revolutionskrieges, dem Langen Marsch, immer mehr zu einer Bauernpartei. Heute besteht die „Arbeiter- und Bauernpartei“ nahezu ausschließlich aus Technokraten, eine politische Kaste über den Klassen, das real-existierende Proletariat ausbeutend, um in die Entwicklung des Landes zu investieren, die Bourgeosie niederhaltend, dass diese sich nicht die gesamte ökonomische und die politische Macht nimmt. Wie exklusiv der Club KP Chinas geworden ist, sieht man schon daran, dass ihm von 1,3 Milliarden chinesischen Staatsbürgern lediglich 3 Millionen angehören. ( Man vergleiche: Etwa genausoviel Mitglieder hatte die führende Partei der DDR bei lediglich 17 Millionen Staatsbürgern! )
Obwohl in China nicht eigentlich Streikrecht existiert, wird in China zunehmend gestreikt. Angesichts der katastrophalen Lebens- und Arbeitsbedingungen großer Teile der chinesischen Arbeiterklasse, der Wanderarbeiter, sowie angesichts der hochgradigen Entfremdung der Kommunistischen Partei von der wirklichen Arbeiterklasse, ist mit der spontanen Wiedererstehung einer unabhängigen Arbeiterbewegung zu rechnen. Es wird davon abhängen, ob die führenden Kräfte der VR China und der KP Chinas, bereit sind, diese in das politische Leben zu integrieren, oder ob sie sie zu unterdrücken versuchen, ob diese zu einem Werkzeug der Wiedervertiefung der sozialistischen Entwicklung oder aber gar zu einem Hebel endgültiger kapitalistischer Konterrevolution. Erinnern wir uns: Die Solidarnosc in Polen entstand als eine sozialistische Erneuerungsbewegung. Der Ausnahmezustand drängte sie dann in die Arme kapitalistisch-konterrevolutionärer Kräfte.
Der Autor des vorliegenden Buches sieht die weitere Entwicklung Chinas natürlich im Sinne der vollständigen Übernahme des westlichen Modells: „Und je mehr der Lebensstandard der Chinesen steigt, desto drängender wird das Thema der politischen Reform. Das Regime wird sich in den kommenden fünfzehn Jahren sicherlich gewaltigen Herausforderungen gegenübersehen, auch wenn dies nicht bedeutet, dass China über Nacht zu einer freiheitlichen Demokratie westlichen Gepräges werden wird.“ Die political corectnes verlangt es einfach, dem chinesischen Volk so bald wie möglich die freiheitliche Demokratie zu wünschen! Aber andererseits: Man spricht es nur ungern aus, aber es ist eine Tatsache: Dass die Regierung in Peking dem Volk gegenüber nicht rechenschaftspflichtig ist, hat ihr die Umsetzung ihrer Strategie oftmals erleichtert. … Indische Regierungsmitglieder weisen gern darauf hin, dass ihre chinesischen Amtskollegen sich wegen ihrer Wähler nicht den Kopf zerbrechen brauchen. `Wir müssen eine Menge Dinge tun, die politisch populär, aber unsinnig sind. …` Eine solche Mittelkonzentration wäre beispielsweise im demokratischen Indien unmöglich, wo riesige Summen für Subventionen ausgegeben werden, die Wähler zufriedenstellen sollen, ohne einen langfristigen Nutzen zu haben.“
Hier sehen wir das gespaltene Demokratieverständnis all jener, die im neoliberalen Zeitgeist aufgewachsen sind: Da wo autoritäre Machtstrukturen der vollständigen Durchsetzung von Kapitalismus und Neoliberalismus, der Herrschaftsübernahme durch das Kapital, entgegenstehen, ist man natürlich überzeugter Demokrat. Wo aber innerhalb einer eher kapitalistisch geprägten Wirklichkeit immerhin soviel effektive Demokratie existiert, dass die Interessen der Mehrheit von der Politik beachtet werden müssen, die Sozialstaatlichkeit nicht völlig dem neoliberalen Wahn geopfert werden kann, lässt die Begeisterung für die Demokratie deutlich nach. Subventionen und Sozialausgaben helfen ja doch nur kurzfristig, langfristig hilft doch nur die Entfesselung der Märkte um alle reich zu machen. Jetzt sehen wir es aber bereits deutlich: Die Entfesselung aller Märkte führt schon kurzfristig in die Krise und langfristig sind wir heutigen sowieso alle tot.
Gesamturteil: Trotz einer gewissen politisch-ideologischen Schieflage aus meiner Sicht der Dinge, ist es nicht uninteressant zu lesen, denn man erfährt sehr viel über die Entwicklung von China und Indien in den letzten zwei Jahrzehnten, was man der Tagespresse sicher nicht entnehmen konnte.
* * *
Fareed Zakaria: „Der Aufstieg der Anderen – Das postamerikanische Zeitalter“, Aus dem Englischen von Thorsten Schmidt, Siedler Verlag, München 2009, Gebundenes Buch, Leinen mit Schutzumschlag, 304 Seiten, 13,5 x 21,5 cm, ISBN 978-3-88680-917-2, € 22,95 [D] | € 23,60 [A] | CHF 39,90 (UVP)