Diese verschiedenen Facetten eines Blickes, einer Landschaft, einer Menschenmenge malte er also in der Natur auf vielen Täfelchen, die er dann – im Atelier – zu einer Gesamtkomposition vereinigte. Das waren dann enorm große Formate, die heute vielfach in den USA hängen, die sich wie bei anderen Malern des 19. Und 20. Jahrhunderts sehr frühzeitig mit viel Geld die Gemälde sicherten. Diese Formate nun wiederum sind fragil und werden kaum ausgeliehen. Ganz unabhängig, ob die mangelnde Transportfähigkeit stimmt, stehen sie für den regulären Ausstellungsbetrieb nicht zur Verfügung. Die Zürcher Ausstellung hatte aus dieser Not eine Tugend gemacht, und eine auf den kleineren Vorlagen basierende Ausstellung zusammengestellt, die einzigartig die Methode der Erfassung der Welt durch den Zeichner und Maler Seurat an die Wände hängt, was Frankfurt mit geringfügig veränderten Zeichnungsaustausch und einigen Blättern weniger in immerhin rund 60 Werken zeigt.
Man wird sehend, wenn man das Konzept der Zürcher Ausstellung, nun noch zugespitzt in der Schirn in Frankfurt betrachtet. Dort begann es mit der jungen Frau, die ungelenk sich von uns abwendet. Die erste Ölskizze. Hier bildet sie im zweiten Kabinett den Auftakt für eine Serie von Personendarstellungen, die unsere Vermutung von Zürich für Frankfurt beweist: Seurat zeichnet und malt die Menschen von hinten und von der Seite. Und zwar alle. Ein, zwei Ausnahmen gibt es überall. Aber es ist sein Prinzip. Ob es die Linie und die reine Linienführung ist, die ihn wie die Florentiner Malerei so faszinierte oder ob die Silhouette für ihn eine weitere Bedeutung gewinnt, das ist für uns nicht zu entscheiden. Durch die Abwesenheit des Frontalen in den kleinformatigen Tafeln und den so wunderschönen mit schwarzer Preßkreide hingehauchten Zeichnungen, kommt auch leicht die Welt als Ganzes abhanden. Seurat erzeugt beim Betrachter ein Gefühl des Abgehobenseins, des sich aus der Welt Entfernens. Wobei einem aber ganz wohl bleibt und man sich sehr bei sich selber fühlt.
Seurat ist, das sieht man in der Frankfurter Ausstellung noch deutlicher als in Zürich, ist einer, der ständig unterwegs ist. Unterwegs, um aus vielen Details, denen die Schirn nun Heimat ist, das Endgültige, das Gültige, das für immer Seiende zu schaffen: seine großen Tafeln. Die muß man nun hier imaginieren, darf sich dann aber am einzigen ausgestellten Hauptwerk, dem Zirkus, schon erfreuen, der dadurch, daß er in der Farbenpracht leuchtend am Ende im letzten Kabinett prunkt, zusätzlich den Schlußakt erhält und über den wir in den Zürcher Besprechungen, die hier als Teil der fast identischen Frankfurter Schau mitzulesen sind, seine erzählerischen Qualitäten ausloteten.
Georges Seurat ist nämlich einschließlich seines Interesses für die Veränderung von Licht auf das Malen, auch methodisch unterwegs. Die naturwissenschaftlichen Phänomene der Wahrnehmung, wie sich die einzelnen Farbpigmente erst im Auge des Betrachters zusammensetzen und ein Bild konstituieren, interessiert ihn genauso wie die Fragestellung, wie ich als Maler Gegenstände abbilde, um ihre innere Konsistenz genauso so darzustellen, wie ihre äußere Wirkung auf den Betrachter. Es ist der Weg zum Pointillismus, den er kreieren wird und als dessen Erfinder er in die Kunstgeschichte eingegangen ist, ungeachtet, daß er so früh starb und jemand wie Paul Signac dann sehr viel mehr Werke in diesem Stil weitermalte. Allerdings auch mechanischer, das erkennt man bei einem Vergleich sofort.
Wie auch in Zürich läßt die Frankfurter Ausstellung durch die Hängung – hier übrigens noch stärker als in Zürich durch die vielen, fast gleichgroßen Kabinette in wechselndem dunklem Blau und Grau, wo dieselben Motive oder Bildgruppen dicht nebeneinanderhängen und somit einen seriellen Charakter erhalten – die Assoziationen beim Betrachten im Hirn spazieren gehen. Ja, man sieht die Vorbilder, man sieht bei den Figuren Ingres, man sieht bei den arbeitenden Menschen genauso Millet wie dessen Genre-Nachfolger van Gogh, man sieht einfach die Malerei als einen Prozeß, an dem viele mitwirken, um der Zeit einen Ausdruck zu geben, von dem wir heute sagen: Das ist typisch 19. Jahrhundert.
Was aber bei Seurat einzigartig ist, daß ist die gegenläufige Bewegung in seinem Malprozeß. Zuerst zerfällt ihm im Divisionismus die Welt, das heißt er zwingt die Farbtupfer, in die die Farben real zerfallen auf die Leinwand, arbeitet mit den Grundfarben und den Komplementärkontrasten und sieht, steht man unmittelbar vor dem Bild, nur noch ein gepunktetes und gestricheltes Farbenmeer, aber keine Welt. Die erschafft er einem aber aus der Distanz. Bewegt man sich nur etwas vom Bilde weg, so gewinnt, je weiter man geht, die Welt immer stärkere Konturen, wird übersichtlich, ja erklärbar. Dieses Phänomen zeigen am besten seine großen Werke, die an Ort und Stelle blieben. Sehr gut aber kann dies auch der Eiffelturm zeigen, der die Plakate und den Katalog ziert und mit dem wir unsere Zürcher Besprechung beendeten und hier zitieren:
„Den Eiffelturm malte Seurat im Januar 1889 in Öl auf 24,1 x 15,2 cm Holz. Aus San Francisco zurück nach Europa gekommen, kann dieses Bild beispielhaft die spezielle Malweise Seurats zeigen. Streng methodisch sind hier die Töne in Punkten der reinen Spektralfarben zerlegt: Kupferrot, Dunkelblau, Hellblau, Gelb und Orange. Diese Farben laufen nicht ineinander über, sondern sind einzeln gesetzt, isoliert also, und doch mit der Wirkung als Boden, Brücke, Baum und vor allem Stahlkonstruktion des Turms zu sehen. Es ist also unser Auge, das ineinanderfügt, was Seurat isoliert. Anfang 1889 den Eiffelturm zu malen, der in Paris die Bevölkerung spaltete und zu diesem Zeitpunkt erst zu Vierfünftel seine endgültige Höhe und Gestalt besaß, ist auch eine Aussage des Malers zum technischen Fortschritt und des Einverständnisses der Ingenieurkunst. Insofern ist dieses Gemälde auch ein Symbol für die Absichten und Ansichten des Künstlers, der den vollendeten Turm nicht mehr malen konnte, weil er mit 31 Jahren starb.“
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Ausstellung: bis 9. Mai 2010 in der Schirn
Katalog: Georges Seurat. Figur im Raum, hrsg. von Christoph Becker und Julia Burckhardt Bild, mit Beiträgen von Wilhelm Genazino, Gottfried Boehm, Michelle Foa, Julia Burckhardt Bild, Hatje Cantz 2009. Da der Erfinder des Pointillismus und der als Solitär in einer Impressionisten- und Spät- und Neoimpressionistengesellschaft völlig einzigartige Georges Seurat in unseren Museen wenig zu sehen ist und Ausstellungen schon deshalb selten sind, weil die amerikanischen Museen ihn rechtzeitig aufgekauft hatten, lohnt sich der Katalog schon zum Nachschlagen seiner Werke. Hier kommt hinzu, daß ein Schriftsteller, ein deutscher Kunsthistoriker, eine junge amerikanische Kunstwissenschaftlerin und die Kuratorin unter spezifischen Fragestellungen Essays liefern, die über Seurat hinaus lesenswert sind. Was wir vermißten, ist eine richtige Biographie.
Hör-/Sehbuch: Kunst zum Hören. Georges Seurat, Verlag Hatje Cantz 2009
Wenn wir sonst schon empfehlen, die Kataloge mit nach Hause zu nehmen, weil das Nachschauen von Gesehenem ein erneuter Genuß ist, dann können wir bei diesem Produkt neben das Sehen das Hören stellen. Fast jeder weiß, daß der Spruch, man sieht nur, was man weiß, richtig ist. Dieses Buch von 44 Seiten, 30 Abbildungen und einer CD mit der Spielzeit von 60 Minuten gibt Ihnen die Chance auch durch Hören besser zu sehen.
Neben einer Einführung, die man auch anhören sollte, sind es tatsächlich dreißig Bilder – also die Hälfte der rund 60 in Frankfurt ausgestellten Werke -, die akustisch das Auge und die eigene Assoziation stützen. Dabei tritt durch das Format des Buches, in dem auf der Vorderseite die CD zum Hören eingedrückt ist, ein eigenartiges Phänomen auf. Die Bilder schrumpfen alle auf dieselbe Größe. Die eh schon kleinformatigen Bilder sind genauso groß wie das große Ölbild. Und wenn am Schluß der Zirkus mit 185,5 x 152,5 cm und der Eiffelturm mit 24,1 x 15,2 cm einander gegenüberstehen, dann kann man die Texte gut brauchen, um sich aus der Gleichheit des Formates wieder in die Ausgangslage zu bringen, die beim Eiffelturm auch deshalb so interessant ist, weil quasi mit Absicht Seurat den Turm malt, als dieser noch nicht vollendet ist, denn der Prozeß ist etwas, was diesen Maler genauso interessiert, wie die Fortschritte der Technik. Er selbst starb ganz jung, noch bald nach der Vollendung des Eiffelturms.