„Gegossenes Blei“ Nr. zwei – Ein Jahr nach dem Gazakrieg

Eine einfache, um nicht zu sagen, primitive Antwort. Aber so sieht es für den oberflächlichen Betrachter aus. Es gab die Kassamraketen – dann führten wir Krieg, und danach gab es keine Kassamraketen mehr. Sderoth floriert, die Bewohner von Beer Sheva gehen ins Theater. Alles andere ist für Philosophieprofessoren.

Aber jeder, der die Folgen dieses Krieges verstehen will, muss ein paar schwierige Fragen stellen.

War es wirklich das Ziel des Krieges, die Kassamraketen zu stoppen? Hätte dies nicht auch auf andere Weise erreicht werden können? Wenn es andere Ziele gegeben hat, welches waren diese? Ist die Endbilanz positiv oder negativ, was die Interessen Israels betrifft ?

Mir tun die Historiker leid. Sie müssen Dokumente genau untersuchen, Protokolle sorgfältig durchlesen, Texte enträtseln.

Dokumente können in die Irre führen. Wenn Talleyrand (oder wer immer es war) Recht hatte, als er sagte, Worte wurden erfunden, um Gedanken zu verbergen, dann trifft dies für Dokumente noch mehr zu. Dokumente verfälschen Fakten, verbergen Fakten, erfinden Fakten – je nach den Interessen des Schreibers. Sie enthüllen etwas, um den Rest zu verbergen. Jeder, der einmal mit öffentlichen Angelegenheiten zu tun hatte, kennt dies.

Deshalb lasst uns die Protokolle ignorieren. Welches waren die wirklichen Ziele derjenigen, die den Krieg begonnen hatten? Ich denke, es waren folgende, die der Reihe nach abnehmende Bedeutung haben:

  1. 1. Das Regime im Gazastreifen zu beseitigen, in dem man das Leben der Bewohner so sehr zur Hölle macht, damit sie sich gegen die Hamas erheben.

  2. 2. Der Regierung und der Armee die Selbstachtung, die im 2. Libanonkrieg sehr angeschlagen war, wieder zurückzugeben.

  3. 3. Die Abschreckungskraft der israelischen Armee wieder herzustellen

  4. 4. Das Abfeuern der Kassamraketen zu stoppen

  5. 5. Den gefangenen Soldaten Gilad Shalit zu befreien.

Prüfen wir die Ergebnisse, eines nach dem anderen.

In dieser Woche versammelten sich Hunderttausende der Gazastreifenbewohner zu einer Demonstration, um die Hamas zu unterstützen. Den Fotos nach zu urteilen, waren es 200 000 bis 400 000. Wenn man berücksichtigt, dass es dort etwa 1,5 Millionen Einwohner gibt und die meisten von ihnen Kinder sind, dann war dies eine eindrucksvolle Beteiligung – besonders im Hinblick auf das Elend, das durch die israelische Blockade verursacht wurde, die das ganze Jahr anhielt. Dazu kommen die zerstörten Häuser, die noch nicht wieder aufgebaut werden konnten. Diejenigen, die glaubten, dass der Druck auf die Bevölkerung einen Aufstand gegen die Hamas verursachen würde, haben sich getäuscht.

Geschichtskenner wären nicht überrascht. Wenn ein Volk von einem äußeren Feind angegriffen wird, schließt es sich hinter seinen Führern zusammen, egal wer sie sind. Schade, dass unsere Politiker und Generäle keine Bücher lesen.

Unsere Kommentatoren porträtieren die Bewohner des Gazastreifens so, als schauten sie neidisch auf die florierenden Läden in Ramallah. Diese Kommentatoren leiten auch Hoffnung aus den Meinungsumfragen ab, die darauf hindeuten, dass die Popularität der Hamas in der Westbank abnehme. Wenn dies so wäre, warum fürchtet sich dann die Fatah, Wahlen durchzuführen, selbst nachdem alle Hamasaktivisten dort schon ins Gefängnis geworfen wurden?

Es scheint, als ob die meisten Leute im Gazastreifen mehr oder weniger mit dem Funktionieren der Hamasregierung zufrieden sind. Trotz des elenden Lebens mögen sie auch stolz auf ihre Standhaftigkeit sein. Es herrscht Ordnung auf den Straßen, Verbrechen und Drogen nehmen ab. Hamas versucht vorsichtig, eine religiöse Agenda im täglichen Leben einzuführen, und es scheint so, als störe das die Öffentlichkeit nicht.

Das Hauptziel der Operation ist völlig daneben gegangen.

Das zweite Ziel ist andrerseits erreicht worden. Die Olmert-Regierung, die im 2. Libanonkrieg das öffentliche Vertrauen verlor, erlangte dies im Gazakrieg wieder zurück. Das hat zwar Olmert selbst nichts geholfen – er musste zurücktreten, weil er eine Wolke von Korruptionsaffären um seinen Kopf schweben hatte.

Die Armee hat ihr Selbstvertrauen wieder erlangt. Sie hat bewiesen, dass die militärischen Defizite, die bei jedem Schritt im Libanonkrieg ans Licht kamen, oberflächlich waren. Die Öffentlichkeit glaubt, dass die Armee im Gazastreifen gut funktioniert hat. Die Tatsache, dass im Ganzen nur sechs israelische Soldaten durch feindliches Feuer getötet wurden, aber mehr als ein Tausend Leute auf der anderen Seite starben, hat diesen Glauben bestärkt. Nur wenige Leute werden von moralischen Skrupeln geplagt.

Die Frage, ob das dritte Ziel erreicht worden ist, ist eng verknüpft mit einer anderen Frage. Wer hat den Krieg militärisch gewonnen?

In einem Krieg zwischen einer regulären Armee und einer Freischärlergruppe ist es schwierig zu entscheiden, wer gesiegt hat. Bei einer klassischen Schlacht zwischen Armeen wird angenommen, dass der Sieg denen gehört, die nach dem Kampf auf dem Schlachtfeld bleiben. Offensichtlich kann man dies bei einem asymmetrischen Kampf nicht sagen. Die israelische Armee wollte nicht im Gazastreifen bleiben – im Gegenteil, sie war daran interessiert, solch eine Möglichkeit zu vermeiden.

Einige behaupten, die Hamas habe den Krieg gewonnen: wenn eine kleine Gruppe schlecht bewaffneter Guerillas ganze drei Wochen gegen eine der stärksten Armeen der Welt durchhalten kann, dann bedeutet das einen Sieg. Da steckt eine Menge Wahrheit drin.

Auf der andern Seite ist die Abschreckungskraft der Armee gewiss wieder hergestellt worden. Alle palästinensischen Fraktionen und alle arabischen Kräfte im Allgemeinen wissen jetzt, dass die israelische Armee bereit ist, bei jeder militärischen Konfrontation rücksichtslos zu töten und zu zerstören. Ab jetzt werden Hamasführer – wie auch Hisbollahführer – zweimal nachdenken, bevor sie Israel provozieren.

Die Kassamraketen sind fast vollständig gestoppt worden. Hamas hat sogar ihre Autorität bei den kleinen extremen Fraktionen durchsetzen können, die anscheinend weiter machen wollten.

Zweifellos hat die wieder hergestellte Abschreckungskraft der Armee dazu beigetragen. Aber es stimmt auch, dass die Armee sehr darauf achtet, keine Vorfälle zu verursachen, wie es vor Cast Lead der Fall war. Wenigstens beruht die Abschreckung im Gazatheater jetzt auf Gegenseitigkeit.

Es könnte gefragt werden, ob die Kassamraketen auch ohne Krieg hätten gestoppt werden können? Wenn die israelische Regierung die Hamasregierung im Gazastreifen – wenigstens de facto – anerkannt hätte, und geschäftliche Beziehungen mit ihnen aufgebaut und es nicht die Blockade verhängt hätte – hätten dann die Raketen gestoppt werden können? Ich bin davon überzeugt.

Die Befreiung Shalits – ein sekundäres aber wichtiges Ziel in sich – ist noch nicht erreicht worden. Wenn Shalit befreit werden wird, dann wird dies zusammen mit einem Gefangenenaustausch geschehen – und das sieht dann für die Hamas wie ein großer Sieg aus.

Wenn man all diese Ergebnisse zusammen betrachtet, könnte man den Schluss ziehen, dass der Krieg in etwa unentschieden ausgegangen ist.

Wenn Goldstone nicht gewesen wäre.

Dieser Krieg hat Israels Ruf in der Welt einen fatalen Schlag versetzt.

Ist das bedeutsam? David Ben Gurion sagte einmal den berühmten Satz: „Es ist unwichtig, was die Goyim sagen, wichtig ist, was die Juden tun.“ Thomas Jefferson sagte dagegen, dass es sich keine Nation leisten könne, nicht eine anständige Achtung vor der Meinung der Menschheit zu haben“. Jefferson hatte Recht. „Was die Goyim sagen“ hat eine immense Auswirkung auf alle unsere Lebensgebiete – von der politischen Arena bis zu Sicherheitsangelegenheiten. Der Ruf unseres Staates in der Welt ist ein lebenswichtiger Faktor unserer nationalen Sicherheit.

Der Gaza-Krieg – von der Entscheidung, die Armee in ein dicht bewohntes Gebiet zu schicken, bis zur Anwendung von weißem Phosphor- und Flechette-Munition – hat einen dunklen Schatten über Israel geworfen. Der Goldstone-Bericht hat mit den schaurigen Bildern, die während des Krieges aus dem TV-Netzwerk aus aller Welt verbreitet wurden, einen schrecklichen Eindruck hinterlassen. Hunderte von Millionen Menschen sahen und hörten dies, und ihre Haltung gegenüber Israel hat sich verändert. Dies wird einen weitreichenden Einfluss auf die Entscheidungen der Regierungen haben, auf die Einstellung der Medien und auf Tausende von großen und kleinen Entscheidungen, die Israel betreffen.

Fast all unsere Sprecher und Journalisten vom Präsidenten bis zum letzten TV-Talkshowmeister plapperten wie Papageien nach, der Goldstone-Bericht sei „einseitig“, „niederträchtig“ und „verlogen“. Aber die Leute rund um die Welt wissen, dass es ein Bericht ist, wie er ehrlicher nicht hätte sein können, nachdem unsere Regierung entschieden hat, die Untersuchung zu boykottieren. Der Schaden wächst von Tag zu Tag. Einiges ist nicht wieder gut zu machen.

Es ist unmöglich, die Folgen des Krieges zu messen, ohne diese Tatsachen mit auf die Wagschale zu legen. Das Ergebnis: der Schaden, den wir uns durch den Krieg selbst zufügten, ist größer als jeder Vorteil.

Einige Leute unserer Führung akzeptieren diese Schlussfolgerung schweigend. Aber es fehlt nicht an Stimmen – in der Führung und auf der Straße – die offen davon reden, Cast Lead 2 sei nur eine Zeitfrage.

Eine Redewendung, die man Bismarck zuschreibt, sagt: „Toren lernen aus der eigenen Erfahrung, kluge Leute lernen aus der Erfahrung anderer.“ Zu welchen Leuten gehören wir?

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Anmerkungen:

Vorstehender Artikel von Uri Avnery wurde aus dem Englischen von Ellen Rohlfs übersetzt. Die Übersetzung wurde vom Verfasser autorisiert. Der Beitrag wurde unter www.uri-avnery.de erstveröffentlicht. Alle Rechte beim Autor.

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