Godard ist ein Meister der Ironie, dessen Charaktere handeln, als hätten sie bewusst entschieden, Karikaturen zu sein. Verächtlich blickt der Klein-Ganove Michel (Jean-Paul Belmondo) auf seine affektierten Mitmenschen und ist selbst nur blasses Abziehbild seines Idols „Bogie“, Humphrey Bogart. Ein Auto zu stehlen und einen Polizisten zu erschießen gelingt Michel dennoch. Auf der Suche nach einem Versteck läuft er seiner amerikanischen Freundin Patricia entgegen. Die hinreißende Jean Seberg, die sich später das Leben nahm, spielt die Studentin, die im engen T-Shirt als Zeitungsverkäuferin ihre „New York Herlad Tribune“ ausruft. In Zeitungen schaut Michel immer wieder, als hoffe er geradezu, dort sein Photo zu entdecken. In Patricias Apartment versucht Michel gleichzeitig telefonisch Geld zu organisieren und seine Freundin ins Bett zu kriegen. Beides misslingt ihm mehr oder weniger. Keiner der beiden kann sich des andern sicher sein. Um sich ihre emotionale Unabhängigkeit zu bewahren, verrät Patricia Michel an die Polizei. Um sich ihre Selbstachtung zu bewahren, verrät sie ihm ihren Verrat. Michel ist nicht Gangster genug, um eine Schießerei oder Flucht zu versuchen. Nur dem Tod will er weglaufen, nachdem die Polizei ihn angeschossen hat, doch der Tod ist schneller. Die ganze grausam-lächerliche Sinnlosigkeit des Lebens wird dem langsam vor sich hin Sterbenden klar. Was anderes tun, als Grimassen zu schneien und zu sagen: „C’est vraiment dégueulasse.“ Am ehesten getroffen mit der Übersetzung: „Das kotzt mich an.“ Der Polizist an Patricias Seite übersetzt die letzten Worte ihres sterbenden Geliebten falsch. Ob versehentlich oder bewusst, bleibt unklar:„’Du kotzt mich an‘.“ Nichteinmal der Tod ist in „A bout de Souffle“ eine echte Tragödie. Am „letzten Atemzug“, so die wortwörtliche Übersetzung des Titels, angelangt zu sein, hat da Tröstliches.
In gewisser Hinsicht scheitert Jean-Luc Godards Werk; auf brillante Weise. Weil es gleichzeitig realistisch und künstlich sein will, Satire und Parodie vereinen, avantgardistisch und klassisch sein. Wie in den films noirs, deren Filmplakate wie die amerikanischer Stars die Szenerie prägen und denen die vorangestellten Widmung an Monogram Pictures huldigt, macht das Scheitern des (Avantgarde)Helden den Reiz aus. Nicht zuletzt der erzwungenen Kürze von 90 Minuten verdankt „A bout de Souffle“ die Lakonie der Dialoge, das rasante Tempo, die abrupten Schnitte und ausufernden Kamera-Schwenks. Nach einer kurzen Episode in den dreißiger und vierziger Jahren war die Authentizität im französischen Massenkino fast aus der Mode geraten. Godard dreht trotzdem in den Straßen, im fahrenden Auto, fing den Lärm der Stadt und der Straßen ein. Dies alles gab es bereits. Im amerikanischen Kino, in den kleinen Lichtspielhäusern, wo auch „A bout de Souffle“ seinen Aufstieg zum Kultfilm begann. „Außer Atem“ ist Godards Erfindung eines europäischen film noir, ein lichter Gegenpol zum düsteren Straßenlabyrinth.
Dass Godard jenes Genre, welches er als Kritiker der „Cahier Du Cinema“ mit taufte, später zitieren sollte, ist eine filmhistorische Ironie. Als die Schwarze Serie einen langsamen Tod starb, begründete Godards Debüt eine neue filmische Schule. Wo der noir nihilistisch war, ist „A bout de Souffle“ existentialistisch: „Ich weiß nich, ob ich unglücklich bin, weil ich unfrei bin oder ob ich unfrei bin weil ich unglücklich bin.“, sagt Patricia. Auf ihr Zitat William Faulkner, in welchem er die Trauer dem Nichts vorzieht, erwidert Vital: „Ich wähle nichts. Denn im Leben geht es um alles oder nichts.“
In seinem späterem Film „Eine Frau ist eine Frau“ lässt Godard Jean-Paul Belmondo, den Darsteller des unglücklichen Existentialisten Michel, in einer Nebenrolle sagen, er müsse nach Hause, „A bout de Souffle“ liefe im Fernsehen. Zeit zu gehen also. „A bout de Souffle“ läuft auf der Berlinale.
Titel: A bout de Souffle – Außer Atem (Breathless)
Berlinale Retrospektive
Land/Jahr: Frankreich 1959
Genre: Satire/Thriller
Regie und Drehbuch: Jean-Luc Godard
Darsteller: Jean-Paul Belmondo, Jean Seberg, Henri-Jaques Huet, Jean-Pierre Melville
Laufzeit: 90 Minuten
Bewertung *****