„Geschichten waren und sind meine Rettung.“ Nicht nur damals für das Kind in Hameln, das sich während der Kriegszeit um den Vater sorgte; sondern auch vor zwölf Jahren als ihr Ehemann starb und zwei aufeinander folgende Schlaganfälle die Autorin in den Rollstuhl zwangen. Über Monate hinweg lag ihr Sprachzentrum lahm – die Stimme versagte, doch die Entschlossenheit blieb. Grüne Augen funkeln. „Aufgeben? – Niemals!“ Stattdessen entstand ein weiteres Buch: ’Gegen den Strom – mit Rad und Rollstuhl den Elbe-Radweg flussaufwärts’ (2004). Flotte tausend Kilometer – von Cuxhaven bis Prag – reiste Marlies Lehmann-Brune in ihren Elektro-Rollstühlen an den Ufern der Elbe entlang. Der rollende ’Emil’ schaffte es nur bis Lauenburg, doch ’August der Starke’ bewies sich auf den oft holperigen Wegen als zähes Gefährt. Ihr Partner, Harald Petersen, radelte nebenher und illustrierte das Projekt mit dem Zeichenstift. Jetzt trommeln zarte Finger auf dem Kaffeetisch. „Der Wille zählt.“ Dann ein ärgerlicher Blick auf den linken Arm, der komplett gelähmt und „irgendwie nutzlos am Körper klebt.“ Ein Traum formt sich in weiter Ferne. „Ägypten und die Pharaonen, das wäre ein spannendes Thema, aber daraus wird wohl nichts.“
Das Bücherregal in der Hamburger Wohnung quillt. Hier und da stehen kleine Souvenirs von Urlaubs- und Studienreisen: Das schwedische Pferd aus Dalarna, ein Buddha aus Fernost, der Chanukka-Leuchter aus Israel – von überallher etwas Kleines und Handliches, doch niemals aufdringlich. „Gelobt werden meine Geschichten vor allem, weil sie schlicht und einfach erzählt sind.“ Unter ihrer Feder verwandeln sich selbst nüchterne Fakten zu lebendigen Begebenheiten, erzählen – gerne auch augenzwinkernd – von den vielfältigen Verstrickungen des Lebens. Die Themenvielfalt beeindruckt und verwirrt zugleich. Da ist die Geschichte des Versicherungsimperiums ’Lloyd’s of London’ (1999) und die der Circus-Dynastie ’Althoff’, oder das Schicksal der jüdischen Familie Zuntz (’Der Koffer des Karl Zuntz’, 1997). Diese Familiensaga umfasst ganze 500 Jahre und dokumentiert damit Zeitgeschichte gegen das Vergessen. Aber auch Wracks und Strandleichen (’Das Meer war ihr Schicksal’, 2005) gehören zu ihren Veröffentlichungen. Gemeinsam mit Harald Petersen ’rad-rollte’ die Autorin den Nordseeküsten-Radweg von Sylt nach Terschelling, immer auf den Spuren menschlicher Tragödien, die das Meer verschweigt. Jedes ihrer Bücher ist bis in die kleinsten Details säuberlich recherchiert. Stunden, Tage, Monate saß die „Schreibbesessene“ in Archiven, Museen, auf Friedhöfen und sprach mit unzähligen Zeitzeugen. Ihr feines kriminologisches Gespür paart sich mit dem Mut, auch dem Schwierigen und Widersprüchlichem zu begegnen. Nun legen diese Geschichten Zeugnis ab, berichten, was einst geschah, uns heute prägt. Doch stolz, nein, stolz sei sie nur auf ihre Kinder, die alle so wunderbar geraten wären. „Eines Tages schreibe ich eine Autobiografie, nur für sie.“ Aber jetzt, nein, jetzt hätte sie dafür noch keine Zeit. Es warten schließlich noch andere Geschichten darauf, ausgegraben und erzählt zu werden.
Neuerscheinung 2010:
"Historische Handelsrouten"
Ja, es gibt sie noch, die Spuren der alten Handelsrouten zwischen Nord- und Ostsee, auch wenn der Fortschritt so vieles verwischt hat. Die Autorin und ihr Begleiter haben diese alten Handelsrouten mit Rad und Elektro-Rollstuhl: "erfahren". Die Tour führte über die "trockene" und die "nasse" Salzstraße, den alten Eiderkanal und den dänische Haervej, einen der ältesten Landfernwege zwischen Nord- und Mitteleuropa. Und sie folgten den Spuren des Ochsenweges` von Viborg bis an die Elbe.
Gebundene Ausgabe: 172 S., 41 Abb.; ISBN 978-3-8391-5598-1; EUR 24,90